Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Die Abgründe der Provinz
Die Arnstädter Autorin Katharina Schendel über ihren jüngsten Thüringen-fall, die Lehren der Ferne und die Anziehung regionaler Krimis
Vielleicht, sagt sie, hatte ich auch viel Glück. Das richtige Thema zur richtigen Zeit beim richtigen Verlag. Emons ist Spezialist für Regionalkrimis. Regionalkrimis gehen gut und Thüringen war damals noch vergleichsweise arm an lokalen Delikten. Das ist inzwischen anders. Gerade erst ist beim Verlag ein neuer Krimi von Julia Bruns erschienen. Bilzingsleben, Kindelbrück und ein mörderischer Streit. Es geht doch.
Warum eigentlich? Als Stachel in beschaulicher Selbstgenügsamkeit, die der Provinz anhaftet wie Thüringen der Bratwurstdampf? Ähnlich wie man es schwedischen Krimiautoren nachsagt, wenn sie mit Inbrunst ihre Wohlfahrtsidylle zerlegen und den Bodensatz menschlicher Abgründe aufrühren?
Mmh. Vielleicht. Vielleicht muss man es aber gar nicht so kompliziert machen. Menschen mögen es, vertrautes Leben in einem Buch wiederzufinden. Straßen, Geräusche, Gerüche, tausendfache Alltäglichkeiten, die plötzlich in einer anderen Färbung erscheinen. Umgekehrt funktioniert es auch. Es gibt Leute, sagt sie, die kaufen sich einen Krimi der Gegend, bevor sie dorthin als Touristen aufbrechen. Der Regionalkrimi als Annäherung an die Fremde.
Ein gutes Stichwort, sie kann nämlich auch anders. In ihrer Dissertation, erschienen bei Erga, erzählt sie von den merkwürdigen Erlebnissen des Wilhelm Gottlieb Tilesius von Tilenau in Japan. Ein Mühlhäuser Forschungsreisender, den der Zarenhof für die erste russische Weltumseglung 1803 bis 1806 als Schiffsarzt, Meereszoologe und Expeditionszeichner angeheuert hatte. Nur dass die xenophoben japanischen Herrscher jener Zeit keine Ausländer ins Land ließen. Was der Mühlhäuser Abenteurer an Exotik zu Gesicht bekam, beschränkte sich auf ein kleines eingezäuntes Areal am Hafen.
Sie hatte mehr Glück: Bevor sie in London studierte, hat sie ein universitärer Austausch nach Tokio geführt. Eine Affinität zum Fernöstlichen, die ihrem schrulligen Krimi-ermittler Hubertus Schmunk den weltläufigen Japaner Takeo Takeyoshi als Partner in der provinziellen Jagd nach Bösewichten bescherte. Ein multikulturelles Gespann, ein Zusammenprall von Lebenswelten! Da lassen sich eine Menge heiterer Skurrilitäten hineinpacken.
Und im richtigen Leben? Mit welchen Augen eigentlich erlebt ein japanischer Reisender Thüringer Provinz? Sie lacht. Er hört zum Beispiel Bach und dreht vor Begeisterung durch. Japaner lieben authentische Orte, an denen große Namen hängen! Außerdem würde er sich abends über die leeren Gaststätten wundern und sich fragen, wie um Gotteswillen die Menschen hier satt werden. In Tokio ernährt man sich aus Mangel großer Küchen vorzugshalber in Restaurants.
Und sie, was bedeutet für Schendel Provinz? Heimat, Familie, Vertrautheit. Und von London und Tokio aus gesehen? Noch mehr Heimat! Neben vielem anderen hat sie in London und Tokio auch gelernt, was Heimweh ist. Heimweh, sagt sie, ist eine wertvolle Erfahrung.
Aber dazu bedarf es eben der Ferne. Weshalb sie darüber nachdenkt, was wäre, wenn sie Schmunk, der sich lieber einen Arm abhacken lassen würde, als Thüringen zu verlassen, einmal dorthin schicken würde. In die ferne Fremde.