Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Gefährlich­e Gerinnsel

Der Schlaganfa­ll ist die dritthäufi­gste Todesursac­he in Deutschlan­d. Neue Behandlung­smethode verringert Sterberate bei schweren Fällen

- Von Alina Reichardt

Berlin. In nur wenigen Minuten passiert es. Eine Gesichtshä­lfte wird taub, Worte wollen nicht mehr klar aus dem Mund kommen, ein Arm lässt sich nicht mehr anheben. Es sind die deutlichen Anzeichen für einen Schlaganfa­ll. Er tritt ein, wenn das Gehirn nicht ausreichen­d durchblute­t wird. Die Zellen bekommen nicht genug Sauerstoff, stellen ihre Tätigkeit ein, sterben im schlimmste­n Fall ab. Je länger der Zustand anhält, umso größer der Schaden.

In unserer alternden Gesellscha­ft steigt die Zahl der Schlaganfä­lle, Schätzunge­n gehen von jährlich 270 000 Fällen in Deutschlan­d aus. Rund 20 Prozent der Patienten sterben nach Angaben der Deutschen Schlaganfa­llhilfe innerhalb von vier Wochen, mehr als 37 Prozent überleben das auf den Vorfall folgende Jahr nicht – nach Herzinfark­t und Krebs ist der Schlaganfa­ll damit die dritthäufi­gste Todesursac­he. Über die Hälfte der überlebend­en Patienten bleibt dauerhaft behindert. Doch die Möglichkei­ten, schwerwieg­ende Folgen zu verhindern, haben sich verbessert. Vor einem Jahr nahmen die ärztlichen Fachgesell­schaften eine neue Methode zur Behandlung schwerer Schlaganfä­lle in ihre Leitlinie auf, die sogenannte Thrombekto­mie. Zum heutigen Tag gegen den Schlaganfa­ll ziehen Experten Bilanz.

Etwa 80 Prozent aller Schlaganfä­lle in Deutschlan­d werden nach Angaben der Deutschen Schlaganfa­ll-gesellscha­ft (DSG) durch ein Blutgerinn­sel – einen Thrombus – verursacht, das ein Gefäß verstopft. In Teilen des Gehirns kommt so kein sauerstoff­haltiges Blut mehr an. Thromben können durch Störungen der Blutgerinn­ung entstehen, etwa im Herzen bei Herzrhythm­usstörunge­n. Bei Gesunden lösen sie sich teils von selbst auf. Zu Problemen kommt es, wenn sie aus breiteren in schmälere Gefäße geschwemmt werden oder bei Arterioskl­erose in durch Ablagerung­en verengten Gefäßen stecken bleiben. Hohe Blutdrucku­nd Cholesteri­nwerte, Übergewich­t, Stress sowie Alkohol- und Tabakkonsu­m erhöhen das Risiko. „Die einzige nachweisli­ch effektive Akutbehand­lung ist dann die Lysetherap­ie“, erklärt Dsg-sprecher Wolf-rüdiger Schäbitz, Chefarzt der Neurologie im Evangelisc­hen Klinikum Bethel, „dabei bekommen Patienten per Infusion einen sehr starken Blutverdün­ner, der im besten Fall schnell das betroffene Gefäß erreicht und dort den Thrombus auflöst.“

Wenn das Gerinnsel jedoch in einer der großen Hirnarteri­en feststeckt und größer als ein Zentimeter ist, gelingt die Auflösung nur bei weniger als der Hälfte der Patienten. „In solchen schweren Fällen kommt die Thrombekto­mie zum Einsatz“, sagt Schäbitz – in bis zu fünf Prozent aller Schlaganfä­lle. Ein millimeter­dünner Mikrokathe­ter werde dabei über die Arterie an Leiste oder Arm bis in das betroffene Hirngefäß geführt. „Dann wird ein sogenannte­r Stent durch den Katheter geschoben, ein elastische­s Drahtgefle­cht, ähnlich wie Maschendra­ht. Es dehnt sich aus, das Gerinnsel verfängt sich darin und kann herausgezo­gen werden“, erklärt Schäbitz. „Selbst Patienten mit Halbseiten­lähmung und schweren Sprachstör­ungen haben das Krankenhau­s nach einer Thrombekto­mie schon auf eigenen Beinen verlassen, das grenzt schon an Wunderheil­ung“, berichtet der Mediziner begeistert.

„Es ist mit Abstand die wirksamste Methode, die es jemals gab“, pflichtet ihm Hans-christoph Diener bei. Der ehemalige Vorsitzend­e der Deutschen Gesellscha­ft für Neurologie leitete bis 2016 die Neurologis­che Universitä­tsklinik Essen und ist überzeugt: „Die Sterberate und der Behinderte­ngrad bei Patienten mit einem schweren Schlaganfa­ll gehen durch die noch neue Behandlung­smethode schon jetzt zurück.“Bislang werde sie in knapp 40 Prozent der über 300 sogenannte­n Stroke-units in ganz Deutschlan­d angeboten. In den auf Schlaganfä­lle spezialisi­erten Abteilunge­n arbeiten Neuroradio­logen mit einer Zusatzausb­ildung für das Verfahren. „Aber nicht jede Stroke-unit kann rund um die Uhr solche Experten bereithalt­en“, sagt Diener.

Landet ein Patient mit einem schweren Schlaganfa­ll in einer Abteilung, die keine Thrombekto­mie durchführe­n kann, kommt deshalb das System „Drip and Ship“zum Einsatz. „Der Patient kommt an den Tropf, deshalb ‚Drip‘, und die Lysetherap­ie wird gestartet“, erklärt Neurologe Schäbitz. Während der Blutverdün­ner im Körper arbeitet, erfolgt der Transport (Ship) in eine spezialisi­erte Einrichtun­g. Dass dieses Konzept vergleichb­ar viele Leben rettet, als wären die Patienten direkt vor Ort behandelt worden, zeigt unter anderem eine Studie der neurologis­chen Kliniken im Ruhrgebiet, an der 17 Strokeunit­s beteiligt waren.

Dass für leichtere Schlaganfä­lle eine vergleichb­are Methode entwickelt wird, halten beide Experten für unrealisti­sch. „Die Lysetherap­ie ist in solchen Fällen effektiv“, sagt Schäbitz. Wichtiger sei es, dass mehr Menschen die Anzeichen eines Schlaganfa­lls erkennen und schnell Hilfe holen, denn „jede Minute rettet ein Stück Gehirn“.

Fast 40 Prozent überleben das erste Jahr nicht

 ??  ??  Prozent aller Todesfälle in Deutschlan­d gehen auf einen Schlaganfa­ll zurück. In den meisten Fällen bekommt das Gehirn nicht genug Sauerstoff. Foto: istock
 Prozent aller Todesfälle in Deutschlan­d gehen auf einen Schlaganfa­ll zurück. In den meisten Fällen bekommt das Gehirn nicht genug Sauerstoff. Foto: istock

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