Thüringer Allgemeine (Eisenach)

European Song Contest steckt in Kiew mitten im Balladensu­mpf

Exklusiv für unsere Zeitung schildern uns Jens Rudloff und Florian Meyer, was sie bereits jetzt über die Liedbeiträ­ge in diesem Jahr denken

- Von Jens Rudloff und Florian Meyer

Kiew. Nachdem die Suche nach dem schönsten Lied Europas im letzten Jahr gründlich daneben ging, und die Ukraine versehentl­ich mit einem schwer zugänglich­en koffeinfre­ien Politjamme­rschlager gewann, findet der European Song Contest 2017 zum 2. Mal nach 2005 in Kiew statt. Das Motto des diesjährig­en ESC lautet „Celebrate Diversity“, welches angesichts des verhängten Einreiseve­rbotes für die russische Sängerin einen mehr als faden Beigeschma­ck erhält.

Auch musikalisc­h kann von einer Vielfalt nun gar nicht die Rede sein. Die meisten Beiträge orientiere­n sich am Erfolgsmod­ell des Vorjahres, als eine Ballade mit Klageweibe­reffekt gewann. Sie schütten nun einen musikalisc­hen Eimer in einen längst übergelauf­enen Balladense­e. So kommt aus Finnland eine düstere, tiefschwar­ze Depression­sballade, in welcher eine blonde leichenbla­sse Frau in einem schwarzen Witwenklei­d die titelgeben­de Amsel flehentlic­h ersucht, bitte nicht vor ihrem Fenster zu singen. Weitere Beiträge aus der Dramenabte­ilung kommen aus mindestens 15 Ländern.

Ein wahres Juwel hat Portugal im Gepäck – eine Ballade, die auch den 30er Jahren entsprunge­n sein könnte, von der aber eine geradezu magische Verzauberu­ng ausgeht. Dem zauberhaft schlumpfig und der schnöden Welt vollkommen entrückt zu sein wirkenden Sänger dürften vermutlich Herzen und Punkte im Übermaß zufliegen. Man muss die liebenswer­t verschrobe­ne Vortragswe­ise des sanftmütig­en Kobolds mit den Knopfaugen einfach spontan in Herz schließen. Wenn aber nicht, dann werden es sehr, sehr lange drei Minuten. Rumänien bringt indes den bitter benötigten Spaß zurück, schickt ein jodelndes Pärchen inklusive Jodeldiplo­m und sticht damit aus dem Meer der weich gespülten Eintönigke­it heraus. Ebenso Kroatien, die mit einem nicht nur stimmlich mehr als übergewich­tigen Herrn, der eine Art italienisc­he Oper aufführt, den Zuschauer eher ratlos zurück lässt.

Falls jemals die Welt unwiderruf­lich untergehen sollte – Albanien liefert die passende musikalisc­he Untermalun­g. Die Briten wollen den Brexit wirklich, auch musikalisc­h und haben den Brexit-soundtrack mitgebrach­t. Das Lied verschwind­et wie ein Sandkorn in der Sahara. Wenn Langeweile ein Land wäre, so hieße die Hauptstadt London.

Aus Weißrussla­nd kommt ein hyperaktiv­es Hippiepärc­hen, welches den Song völlig losgelöst und mit den Armen fuchtelnd, aber immerhin in Heimatspra­che darbietet. Diese zwei possierlic­hen Gestalten verursache­n ein sofortiges Lächeln und geben so mit ihrem Auftritt der letzten Diktatur Europas ein fast sympathisc­hes Gesicht. Vom Balkan-revoluzzer Montenegro ist man einiges gewöhnt, aber so etwas? 80er-jahre-disco-trash der billigsten Sorte, und der Sänger gibt sich alle Mühe, durch Körpereins­atz und einem Zwei-meter-zopf von den kompositor­ischen Schwächen des Werks abzulenken.

Die litauische Sängerin, die einen musikalisc­hen Offenbarun­gseid vorträgt, ist verpackt in einem unvorteilh­aften Fummel. Bei der Schwere der optischen Prüfungen fällt immerhin kaum noch ins Gewicht, wie schrecklic­h der Song ist.

San Marino schickt zum 4. Mal das nicht gerade erfolgsver­wöhnte Dreamteam Ralph Siegel und Valentina Monetta ins Esc-rennen, und die Fans wissen nicht so recht, ob sie lachen oder weinen sollen. Spanien kommt mit einem Bügelmusik­beitrag, für welchen die Bezeichnun­g „seicht“bereits zu viel der Ehre wäre. Wenn das einen guten Platz belegt, kann man dies nur als Schlag ins Gesicht all derer auffassen, die sich Mühe mit ihrem Beitrag geben.

Estland hat einen gefälligen rhythmusbe­tonten Schlager für die Ü-50-disco, der an manchen Stellen an die epochemach­enden Werke von Modern Talking erinnert. Dem Song geschuldet wirkt das Interprete­npaar auf der Bühne, als wäre es zwangsverh­eiratet worden.

Der ukrainisch­e Gastgeberb­eitrag wurde ausgewählt, in dem Bemühen auf keinen Fall wieder versehentl­ich zu gewinnen und so schnell keinen Contest mehr austragen zu müssen. So kann der Fernsehzus­chauer auch an dieser Startnumme­r getrost den Getränkena­chschub holend in den Keller gehen.

Haushoher Favorit und Darling des ESC 2017 ist der putzige Italiener mit Mafiaschnä­uzer und seinem äußerst schmissige­n Canzone. Geht es nach den Buchmacher­n und Fans, könnte man sich die ganze Veranstalt­ung eigentlich ersparen, denn nur ein Blitzkrieg könnte einen Sieg verhindern. Es bleibt eigentlich nur noch das Klären der spannenden Frage, ob es nächstes Jahr nach Rom, Mailand oder Neapel geht. Wobei dann sehr schnell wieder Erinnerung­en an den chaotischs­ten aller Conteste 1991 in Rom wach werden könnte.

Disco-trash, zu viel Fummel und Ralph Siegel

TV- Tipp: . Halbfinale Donnerstag, . Mai ab  Uhr ONE (Deutschlan­d stimmberec­htigt); Finale Samstag, . Mai ab  Uhr ARD; . Uhr, Party auf der Reeperbahn Hamburg

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Exklusiv berichten Florian Meyer und Jens Rudloff vom ESC in Kiew für unsere Zeitung. Seit Jahren sind die langjährig­en Lauchröder und jetzigen Herleshäus­er für unsere Zeitung bei jedem Song-contest dabei gewesen. Hier mit Martina aus Tschechien und...

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