Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Fisch aus der Nachbarschaft
Die Produktion von Lebensmitteln in der Stadt ist ein Modell der Zukunft. Nachhaltige und regionale Produkte liegen im Trend
Berlin. Der Hauptstadtbarsch liebt es umschwärmt. Dicht gedrängt zwischen den anderen Fischen, direkt unter der Wasseroberfläche, zieht er acht Monate lang seine Runden durch die dunkelgrauen Wassertanks. Bis er schließlich vakuumverpackt in den Kühlregalen der Berliner Supermärkte liegt. Und noch bevor die Frage nach der artgerechten Haltung aufkommt, sagt Marie Schönau: „Wir haben eine sehr niedrige Besatzdichte in unseren Tanks.“Meint: Das Verhältnis in den Becken ist fünf Prozent Fisch zu 95 Prozent Wasser. „Der Buntbarsch ist ein Schwarmtier, deshalb drängen sich die Tiere so zusammen.“
Marie Schönau arbeitet für ECF Farmsystems in Berlin. Mittels Kreislaufsystemen produziert das Unternehmen in einem Industriegebiet Fisch und Basilikum. Es waren auch mal Paprika, Tomaten, Zitronengras. Den Fisch haben sie „Hauptstadtbarsch“, das Basilikum „Hauptstadtbasilikum“getauft. Die Produkte – 30 Tonnen Fisch im Jahr, 7000 Basilikumtöpfe die Woche – werden unter anderem in den Rewe-märkten im Raum Berlin verkauft. Das Konzept folgt einer Idee, die sich besonders in urbanen Regionen verbreitet: hochwertige Lebensmittel regional, nachhaltig und ressourcenschonend auf kleinem Raum herstellen. „Zwar sollte aus unserer Sicht die Priorität immer Obst und Gemüse aus der bodengebundenen Landwirtschaft, also vom Feld sein“, sagt Christian Rehmer, beim Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) zuständig für Agrarpolitik. Dennoch: „Wenn wir davon ausgehen, dass Städte immer weiter wachsen, sind solche Konzepte zwingend notwendig.“
Und davon ist auszugehen: Laut Statistiken lebt derzeit mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Städten. Im Jahr 2050 könnten es nach Berechnungen der Vereinten Nationen zwei von drei Menschen sein. Die Städter haben auf die Entwicklung reagiert: Die Idee, die Produktion von Lebensmitteln in die Nähe des Konsumenten zu bringen, so Transportwege und Kühlketten kurz zu halten und Emissionen einzusparen, ist in Städten schon seit Jahren unter dem Namen Urban Farming oder Gardening ein Trend.
Das System, das ECF und ähnliche Projekte nutzen, nennt sich Aquaponik. Eine Wortschöpfung aus den Begriffen Aquakultur und Hydroponik, also Pflanzenzucht ohne Verwendung von Erde.
Bei Aquaponik werden die Fische und Pflanzen über einen gemeinsamen Wasserkreislauf produziert. Die Ausscheidungen der Fische dienen als Dünger. Eigentlich ist Aquaponik eine uralte Idee. Neu sei allerdings, das Konzept in die Stadt zu verlegen, sagt Anja Steglich. Die Ingenieurin betreut an der TU Berlin das Projekt „Roof Water Farm“. Auch in dieser Pilotanlage in einem Kreuzberger Hinterhof bilden Fisch und Pflanze einen produktiven Kreislauf. Doch die Forschungspartner gehen Foto: ECF Farm
noch einen Schritt weiter, indem sie Wasserinfrastruktur und Stadtgestaltungsaspekte in den Kreislauf einbeziehen: Die Roof Water Farm bereitet zusätzlich zur Lebensmittelproduktion das Abwasser des angrenzenden Wohnblocks auf – „auch, um auf Anforderungen des Klimawandels zu reagieren und neue Ressourcen zu erschließen“, sagt Anja Steglich. „Abwasser ist eine Ressource. Indem wir es zu Betriebswasser aufbereiten, nutzen wir Nährstoffe und dezentralisieren Wasserinfrastruktur.“So könne städtische Infrastruktur besser auf Starkregenereignisse und Trockenperioden reagieren.
Das wiederaufbereitete Grauwasser der Hausbewohner – Abwasser ohne Fäkalien aus Dusche oder Waschmaschine – fließt unter anderem in die Fischzucht. Und auch mit dem Wasser aus der Toilette experimentiert die Roof Water Farm. Durch chemische Prozesse können daraus Nitrat, Phosphor und Kalium gewonnen werden – Zutaten für die Herstellung von Pflanzendünger. „Wir untersuchen derzeit, ob unser Dünger mit herkömmlichem mithalten kann, die hygienische Qualität und auch den Verbleib von Schadstoffen aus dem Abwasser in den Produkten.“
Anders als bei ECF sind die Lebensmittel der Roof Water Farm noch nicht für den Markt zugelassen. Im Oktober sollen die letzten Tests abgeschlossen sein. Doch neben lebensmittelrechtlichen Fragen stellen sich viele weitere, etwa baurechtliche. „Wir betreten hier Neuland“, sagt Steglich. „Nie zuvor hat jemand so eine Farm gebaut.“Um alle beteiligten Ressorts auch in der Stadtverwaltung zusammenzubringen, lädt die Roof Water Farm nun zu Workshops ein. „Wir wollen fachübergreifende Diskussionen anstoßen“, sagt Steglich.
Das Prinzip des Kreislaufs lässt sich also um Faktoren außerhalb der Lebensmittelproduktion erweitern. „Denken Sie sich zum Beispiel die Kombination aus einer Biogasanlage und Lebensmittelproduktion“, sagt Christian Rehmer vom BUND. Die Abwärme könne genutzt werden, um ein Treibhaus zu beheizen, Bioabfälle wie Fischreste könnten wiederum für die Herstellung von Biogas verwendet werden. „Diese Art der Kreislaufwirtschaft liegt in der Luft“, sagt auch Anja Steglich. „Wenn wir es nicht hier in Berlin machen, machen es andere.“
„Solche Konzepte sind zwingend notwendig“