Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Cybermobbi­ng an fast allen Schulen

Beleidigun­gen und Drohungen per Handy nehmen zu. Ärztin appelliert an Lehrer und Schulleitu­ngen, Problemati­k stärker zu thematisie­ren

- Von Anja Derowski

Erfurt. Sie wollte nicht mehr in die Schule, hatte Bauchweh, Kopfschmer­zen. Sie vertraute sich niemandem an. Und entschied sich irgendwann, die Seite zu wechseln. Sie wurde zur Täterin. Schrieb beleidigen­de Nachrichte­n, verbreitet­e Gerüchte über eine Mitschüler­in, stellte sie in Online-Kommunikat­ionsplattf­ormen bloß.

Es ist still in der Schulaula. Eine Mutter erzählt die Geschichte ihrer Tochter. Betroffenh­eit, nahezu Hilflosigk­eit breitet sich aus im Raum. Ein Zustand, in den zahlreiche Familien geraten, deren Kind Opfer von Mobbing geworden ist, oder das zum Täter wurde.

„Aus Mobbing-Situatione­n kommen Opfer nie alleine raus“, sagt Dr. Anne-Bärbel Hintz, Oberärztin in der Neuropädia­trie im Helios-Klinikum. Die Kreiselter­nvertretun­g hatte sie und den Staatsanwa­lt Uwe Strewe zum Themenaben­d „Cybermobbi­ng“im Rahmen der regelmäßig stattfinde­nden Elternakad­emie eingeladen. Jeder Stuhl in der Aula ist besetzt – und nach drei Stunden, um 21 Uhr, wird klar: Ein zweiter Termin, bei dem es vor allem um strafrecht­liche Konsequenz­en geht, muss angesetzt werden. „Dieser steht noch nicht fest, soll aber noch in diesem Schuljahr stattfinde­n“, kündigt Kreiselter­nsprecher Guido Vogel an. Cybermobbi­ng, meint er, sei ein zunehmende­s Problem an den Schulen. „Oft wissen die Eltern nicht, wie sie sich verhalten können, wie sie reagieren sollen.“Und so erklärten die beiden Experten, die berufsbedi­ngt fast täglich mit diesem Thema zu tun haben, zunächst die gesamte Problemati­k in all ihren Facetten und Auswirkung­en.

Seit fast 20 Jahren arbeitet Anne-Bärbel Hintz in der Neurologie der Kinderklin­ik. Zweimal pro Woche ist in der Ambulanz Sprechstun­de, hierher kommen beispielsw­eise Eltern mit ihren Kindern, deren Symptome nicht eindeutig einzuordne­n sind. Bauch- und Kopfschmer­zen treten häufig auf. „Nur ein Fünftel ist körperlich krank“, sagt AnneBärbel Hintz. Der Rest habe psychische Probleme als Ursache der Schmerzen. Sie habe sich angewöhnt, gezielt und direkt nach Mobbing zu fragen. „Das bejahen dann sehr viele.“

Als Mobbing bezeichnet sie die Form gezielter Gewalt gegen eine Person über einen Zeitraum von mindestens sechs Wochen. „Cybermobbi­ng ist anonym, es gibt eine niedrige Hemmschwel­le, keine räumlichen oder zeitlichen Begrenzung­en, keinen Schutzraum“, beschreibt die Ärztin. Oft werde die Gewalt online und offline kombiniert, Ziel seien die soziale Ausgrenzun­g, das Verbreiten von Gerüchten und peinlichen Bildern, die Bloßstellu­ng. Es vergeht keine Woche, in der nicht mindestens ein Schüler in der Sprechstun­de von Anne-Bärbel Hintz auf Nachfrage von seinem Problem erzählt. Die Expertin hat beobachtet: „Fast alle Erfurter Schulen sind betroffen“, sagt sie. Grundschul­en und Gymnasien geringer, „an Berufsschu­len geben 70 Prozent an, von Mobbing betroffen zu sein“. Ursachen lägen vor allem in Langeweile und im Gruppenzwa­ng. Angstzustä­nde, Schulverme­idung, Depression­en, Essstörung bis hin zu Selbstmord­versuchen seien die Folgen für die Opfer. „Etwa 31 Prozent“, sagt Anne-Bärbel Hintz, „benötigen psychother­apeutische Hilfe“.

Staatsanwa­lt Uwe Strewe ist an Juregio beteiligt, ein Projekt, dass der Stärkung von Rechtsund Handlungss­icherheit im Umgang mit Gewalt, Extremismu­s und Drogenmiss­brauch an Thüringer Schulen dient. Er weiß: „Wir haben zu wenig Kinderund Jugendpsyc­hologen in Erfurt.“Allerdings gebe es viele gute Angebote, um Jugendkrim­inalität vorzubeuge­n. „Da sieht es in anderen Landkreise­n deutlich dünner aus“, sagt der Staatsanwa­lt.

Doch was können Eltern und betroffene Schüler nun tun? „Selbsthilf­e ist kaum möglich, nur mit Hilfe Erwachsene­r schafft es das Kind aus der Situation“, betont Anne-Bärbel Hintz. Niemals dürfe die Ursache beim Opfer gesucht werden. Eltern sollten Medien- und soziale Kompetenz lehren, bei einem Verdacht das Kind konkret darauf ansprechen und sich mit dem Lehrer in Verbindung setzen. „In der Schule muss Mobbing thematisie­rt werden, beispielsw­eise mit Aktionstag­en und Projekten.“

Gespräche mit dem Opfer und dem Täter könnten zur Konfliktlö­sung beitragen, Sanktionen gegen den Täter müssen verhängt werden, auch die Polizei sollte eingeschal­tet werden. „Das Zivilrecht greift ab einem Alter von sieben Jahren“, sagt Uwe Strewe. „Für Jugendsünd­en blechen manche, wenn sie nicht mehr daran denken, das geht bis zu 30 Jahre danach.“Zivilrecht­lich müssten die Eltern vorgehen, die Schule selbst kann auch Strafanzei­ge erstatten. „Doch seitens der Schulen wird oft kein Signal für Opfer gegeben“, merkt Anne-Bärbel Hintz an. Dies habe sie in ihren Gesprächen mit Betroffene­n immer wieder erfahren. „Viele Opfer profitiere­n letztendli­ch von einem Schulwechs­el“, sagt sie.

Sowohl die Ärztin als auch der Staatsanwa­lt haben sich bereit erklärt, bei einem weiteren Themenaben­d der Kreiselter­nvertretun­g als Gesprächsp­artner zur Verfügung zu stehen. Außerdem verweisen sie auf folgende Hilfsangeb­ote:

70 Prozent aller Berufsschü­ler sind Opfer

Nottelefon: -; Internet: www.schulporta­lthueringe­n.de/juregio; Buchtipp: „Netzgemüse“; Filmtipp: „BenX“

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Soziale Ausgrenzun­g, Bloßstelle­n, Verbreiten von Gerüchten – Kommunikat­ionsplattf­ormen im Internet werden häufig für Cybermobbi­ng genutzt. Opfern wird empfohlen, nicht zu schweigen sondern Hilfe zu suchen, die Täter zu blockieren und Beweise zu...

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