Frau Luo nimmt Abschied von Erfurt, einer goldenen Schale schimmernder Perlen
Vier Monate als Stadtschreiberin enden und damit eine Entdeckungsreise voller Überraschungen
Erfurt. Wie schnell die Zeit vergeht! Meine Zeit als Erfurter Stadtschreiberin geht zu Ende, und ich muss Abschied nehmen.
Schaue ich auf die vier Monate zurück, stelle ich fest: Es war eine Entdeckungsreise mit vielen guten Überraschungen. Das lebhafte Straßenleben, die schönen Häuser und vor allem die herzlichen, zupackenden Menschen – die Stadt erscheint mir wie eine goldene Schale voller schimmernder Perlen.
Der Domplatz. Ich gehe oft nach der Arbeit im Dunkeln dahin, um seine erhabene Schönheit im gelben Licht zu genießen. Während der Dom mit der runden Apsis, dem Maßwerk, den langen Fenstern und Bögen wie eine reiche, üppige Dame erscheint, kommt mir die Severikirche mit ihren spitzen Türmen wie ein Ritter mit Lanze und Schwert vor, der die Schönheit beschützen soll. Was für ein herrliches Paar!
Auch im Inneren bin ich gern gewesen. Besonders im vorderen, traditionell eingerichteten Teil des Doms sitze ich gern. Der mächtige Altar wirkt beruhigend und krafteinflößend. Durch die hohen Fenster aus farbigem Glas erhält das Licht einen warmen Grundton, als säße man in einem Zimmer aus Bernstein. Manchmal denke ich, dass ein Baby im Mutterleib sich genauso geborgen fühlen muss wie ich hier. Bald werde ich wieder jeden Tag in Berlin sein.
Der Petersberg, der Anger, die Krämerbrücke, die herrliche mittelalterliche Innenstadt und die Gera mit ihren Forellen und Enten bleiben ebenfalls als unvergessliche und einzigartige Schönheiten in meinem Kopf. Aber neben der äußeren Schönheit gibt es noch etwas anderes. Man spürt die Geschichte. Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht mal vergangen, sagt Faulkner. Die Kleine und die Alte Synagoge mit ihren Veranstaltungen; der Waidspeicher und das Haus Dacheröden, die vom Fleiß und der Geschäftstüchtigkeit der Erfurter zeugen; das Stasiuntersuchungsgefängnis als Bildungsstätte … All diese Orte lassen deutsche Geschichte konkret und lebendig werden. Besonders der Besuch bei Topf & Söhne hat mich berührt. Rüdiger Bender hat mich drei Stunden lang durch die Ausstellung über die „Techniker der ‚Endlösung’“geführt, und dabei wurde mir klar, wie eng das Leben vieler Deutscher mit den Verbrechen der Nazis verflochten war, ohne dass sie sich dem entziehen konnten. Eine kostbare Geschichtsstunde.
Aber dann umgibt mich wieder die heutige Stadt mit ihren geschäftigen, fleißig arbeitenden, warmherzigen und bezaubernden Menschen. Erst durch die Menschen atmet die Stadt, erst durch sie wird sie lebendig, so dass man gern hier verweilt und lebt. Ich habe einige Menschen kennengelernt, die mir unvergesslich bleiben: Marlies, die mich mit Herz betreut und mir geholfen hat, mich zurechtzufinden; Heinz, der Mann mit dem umfassenden Wissen über die ganze Region, der nicht nur beim Wandern den Weg, sondern als Journalist auch immer das feine, präzise und treffende Wort findet; die pensionierte Lehrerin Lieselotte, die immer ein warmes Lächeln für mich hat, wenn sie mich auf dem Spielplatz hinter der Krämerbrücke arbeiten sieht. Manchmal setzt sie sich neben mich, dann erzählen wir einander vom Leben, was uns gut tut; und natürlich Helmi, der mir ein Fahrrad anbietet, bevor ich überhaupt in Erfurt eingetroffen bin. Mit dem Fahrrad seines Enkels bin ich dann an der Gera entlang gefahren und habe den kleinen, aber anmutigen Fluss auf Du und Du kennengelernt.
Der Maler Jost Heyder hat den Auftrag erhalten, mich zu zeichnen. Es ist eine Tradition. Die Porträts der Stadtschreiber hängen im Haus Dacheröden. Ebenso mutig wie ahnungslos bin ich mit dem Fahrrad aufgebrochen, um den Künstler in seinem Atelier aufzusuchen. Zwanzig Kilometer nach Arnstadt, das schaffe ich bestimmt in zwei Stunden, denke ich und summe vergnügt vor mich hin. Aber dann führt mich mein Weg in den Steigerwald. Da habe ich mich schon einmal verirrt. Und weil der Weg bergauf geht, komme ich natürlich mit dem Fahrrad nicht weiter. Bald heißt es schieben. So werde ich es nie schaffen, denke ich und suche nach einem Ausweg aus dem Wald. Als ich endlich wieder im Freien bin, staune ich über die Fluss- und die Tallandschaft. Viel zu spät merke ich, dass ich im Kreis fahre. Nach zwei Stunden Fahrt erreiche ich gerade zum zweiten Mal Möbisburg-Rohda. Von meinem Ziel weit entfernt. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den wartenden Künstler anzurufen und um mehr Fahrzeit zu bitten. Doch der Maler weiß sofort, was er zu tun hat. Er kommt mit seinem Auto hergefahren und holt mich samt Fahrrad ab. Dabei ist er kein bisschen verärgert oder spöttisch, obwohl er ja allen Grund dazu hätte. Während ich Modell sitze, weiß er mich mit kleinen Geschichten aus dem Atelier zu unterhalten. Seine Engelsgeduld wird mir ganz unvergesslich bleiben.
Es war eine vielfältige und erlebnisreiche Zeit für mich. Ich habe die Stadt und ihre liebenswürdigen Einwohner schnell schätzen und lieben gelernt. Ich sage allen herzlichen Dank für die schöne, unvergessliche Zeit! Und ich weiß jetzt schon, ich werde Erfurt vermissen.
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In ihren samstäglichen Kolumnen in der Thüringer Allgemeinen und im OnlineTagebuch, zu lesen auf www.erfurt.de, hat Frau Luo in ihrer Erfurter Zeit charmant ihre Begegnungen und Lieblingsorte in der Stadt beschrieben.