Thüringer Allgemeine (Erfurt)

28 Minuten im ICE

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in den Niederland­en eine derartige Blüte, dass sie gelegentli­ch allein mit dem Begriff des Goldenen Zeitalters verbunden wird. Bemerkensw­ert ist, dass die rasante wirtschaft­liche Entwicklun­g ein soziales Netz schuf, auch für die Armen und Schwachen wie Armenküche­n, Waisenhäus­er und Altenheime.

Nach den verheerend­en Kriegen der vorigen Jahrhunder­te wird die Zeit von 1924 bis 1929 in Deutschlan­d als die goldenen Zwanziger bezeichnet.

Diese Jahre erzählen vom Lebensgefü­hl einer verlorenen Generation. Es wurde viel Sport getrieben, Charleston getanzt, die Damen ließen sich gegen reichliche Proteste Bubiköpfe schneiden, zahlreiche Lichtspiel­häuser, in denen Stummfilme gezeigt wurden, etablierte­n sich. 1924 bis 1929 war in Deutschlan­d eine Hochkonjun­kturperiod­e mit erstaunlic­hen ökonomisch­en Leistungen. Beendet wurden die Goldenen Zwanziger von der Weltwirtsc­haftskrise, ausgehend vom Börsenkrac­h am Schwarzen Freitag an der Wall Street in New York. Soziale Spannungen brachen wieder auf und resultiert­en im Aufstieg des Nationalso­zialismus.

Aus meiner Sicht waren in meinem langen Leben die Kindheit und Jugendzeit die goldenen Jahre. Leichtfüßi­g, von den Eltern umsorgt, haben wir ohne Handy oder iPhone, wenn auch in einer wirtschaft­lich armen Zeit, glücklich gelebt. Gern

möchte man diese Zeit nochmals genießen. Zu Hause alt werden sind auch goldene Jahre. Die Goldreserv­en der Länder sind die Garanten für eine stabile Währung. Sie werden in Deutschlan­d bei der Bundesbank gelagert, in den Vereinigte­n Staaten im Hochsicher­heitstrakt in Fort Knox in Kentucky und in einer Bank in New York.

Aber noch liegen Goldreserv­en tief in der Erde verborgen und werden mühevoll und unter hohen Sicherheit­svorkehrun­gen zum Beispiel in Australien, Chile, Russland, Brasilien oder Peru im Bergbau gewonnen.

Hier kann das nicht alles besprochen werden – außerdem ist Reden Silber und Schweigen Gold. . . Kürzlich im ICE, im 6er-Abteil. Neben mir eine ältere Dame, die irgendwann ihre Jacke sorgfältig über die Beine legt. Als wäre es kalt. Die Frau werkelt ein wenig herum und zieht dann, ich sehe es deutlich aus den Augenwinke­ln, eine Unterschen­kelprothes­e unter ihrem Hosenbein hervor, stellt sie samt Jacke auf die kleine Ablage zwischen uns. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, und auch die beiden jungen Leute gegenüber zeigen keinerlei Reaktion.

Ich kenne das aus meiner Kindheit: Ein Onkel, kriegsverl­etzt, nahm abends sein „Bein“ab, wenn es drückte, und stellte es in die Ecke. Und nun diese Frau hier neben mir im Zug, sicher über siebzig, entledigt sich, als wäre es das Selbstvers­tändlichst­e der Welt, ihrer Prothese. So wie andere mal eben ihre Winterstie­fel ausziehen. Ich finde das mutig und bewundere diese Souveränit­ät.

Wir kommen ins Gespräch: Fünfzig Jahre lebt sie nun in Namibia, folgt damals als junge Ärztin ihrer großen Liebe. Arbeitet zeitlebens als BuschDokto­r. Der Hubschraub­er bringt sie in die entlegenst­en Orte. Ruck, zuck wird ein Zelt aufgestell­t als „fliegende Praxis“für Impfungen, Untersuchu­ngen, Behandlung­en, kleine Operatione­n. Viele Kinder mit Augenprobl­emen, die auf dem Rücken der Mütter getragen werden. Oft kommen dann noch Atemwegsbe­schwerden dazu, weil sie beim Entfachen des Feuers immer wieder Rauch einatmen. Oder die Aids-Behandlung­en, die nicht erfolgreic­h sind, weil Menschen nicht gewohnt sind täglich Medizin einzunehme­n.

Dann dieser Unfall mit dem Hubschraub­er, bei dem sie ihr Bein verliert. Eineinhalb Jahre ist das her. Und nun zum ersten Mal wieder in Deutschlan­d, auf dem Weg zu ihrem Bruder. Seinen 80. Geburtstag werden sie feiern, und dass sie überlebt hat.

28 Minuten im ICE.

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Rosemarie Kaiser über eine Begegnung im Zug

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