Ein Turnverein als Geburtshelfer
In diesem Jahr feiert die Sportart Faustball in Erfurt ihr 120-jähriges Jubiläum – Anlass für einen Blick in die Historie
Erfurt. Der monatelangen, akribischen Recherche von Wolfgang Appel ist es zu verdanken, dass die Entwicklung der Sportart Faustball in Erfurt für die Nachwelt festgehalten wurde. Auf exakt 100 Seiten hat der Geschäftsführer von Erfurts aktuell einzigem Faustballverein TV 98 aus Stadtarchiven, persönlichen Gesprächen sowie der Sichtung hunderter Fotos und anderer Dokumente eine Chronik über die Sportart, die in der Landeshauptstadt vor 120 Jahren ihren Anfang nahm, zusammengestellt. Mithilfe der Chronik werfen wir anlässlich dieses Jubiläums einen Blick in die Historie ...
...und finden uns wieder im Jahr 1898. 20 Jahre nach der Einführung der Sportart in Deutschland gründet sich auch bei einem Erfurter Verein die erste Faustballabteilung. Erstaunlich, dass dies ausgerechnet beim MTV 1860 Erfurt passiert. Heute für den Sport bekannt, den er in seinem Namen trägt, war der Männerturnverein der „Geburtshelfer“des Erfurter Faustballs.
Mit dem heute sehr dynamischen Sport, der mit Ausnahme der Faustangriffe und der Tatsache, dass der Ball zwischendurch den Boden berühren darf, sehr dem Volleyball ähnelt, hat der Faustball von damals indes wenig gemein. Wo heute die Bälle möglichst hart, flach und unerreichbar ins gegnerische Feld geschmettert werden, geht es Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts bedächtiger zu. Der Ball muss seinerzeit für den Gegner erreichbar über die Leine gespielt werden, kann andernfalls sogar als unzulässig abgelehnt werden. Sieger ist das Team mit den meisten gültigen Überschlägen über die Leine. Mag ausgesehen haben wie ein sportlicher Nichtangriffspakt.
Der MTV ist nicht nur Begründer des Erfurter Faustballs, sondern entwickelt sich auch zu dessen Aushängeschild. Erster Erfolg des MTV auf dem Waldspielplatz am Rande der Stadt, auf dem seit 1911 gespielt wird, ist der Gewinn der Gaumeisterschaft ein Jahr später mit 104:93 gegen ATB Gothania Jena. 1913 folgt Platz vier bei den deutschen Meisterschaft.
Wird das Wachsen der Sportart durch den Ersten Weltkrieg auch in Erfurt jäh gestoppt, ist es danach kaum noch aufzuhalten: Anschließend wird in Erfurt in 28 Vereinen Faustball gespielt (siehe Infokasten), darunter der Sportclub, der Jahnbund, sogar die Berufsfeuerwehr und das Heeresbekleidungsamt. Auf sechs Sportanlagen werden Bälle über die Leine gefaustet, zur Hochzeit der Sportart 1929/30 werden in Hochheim und auf dem Waldspielplatz spezielle Faustballplätze eingeweiht. Seit 1921 finden sogar Winterspiele statt – aufgrund fehlender geeigneter Hallen ebenfalls im Freien.
Ü40-Team des MTV Erfurt zweimal deutscher Meister
Am erfolgreichsten ist weiterhin der MTV: Sein Ü40-Team um Oswald Glaser wird 1926 in Leipzig deutscher Meister und verteidigt den Titel ein Jahr später in Apolda. Aber auch andere Mannschaften, wie etwa die Männer von Wacker Erfurt als Zweitplatzierte der mitteldeutschen Meisterschaft 1928, machen sportlich auf sich aufmerksam.
Wieder erschüttert ein Weltkrieg die Gesellschaft und den Sport, wieder machen sich die „alten Hasen“Karl Specker, August Götze, Willy Seidel und Kurt Stoermer sowie Gerhard Appel um den Fortbestand des Faustballs in Erfurt verdient. Und die MTV-Sportler knüpfen nach dem Zweiten Weltkrieg nahtlos an vorangegangene Erfolge an: 1947 werden sie, nun als BSG VEB Erfurt Ostzonenmeister und deutscher Vizemeister – unter anderem mit Heinz Mayer, der später Nationalspieler in der BRD wird und als Erfurts bekanntester und bester Faustballer in die Geschichte eingeht. In seinem sportbiografischen Lebenslauf schreibt Mayer: „Rückblickend [bin ich] sicher der einzige Faustballspieler, der Ostzonenmeister, DDRMeister, deutscher Meister und Nationalspieler war. Die vielen Stunden auf dem Waldspielplatz des MTV Erfurt werde ich bis an das Ende meiner Tage behalten. Sie zählen zweifellos zu den glücklichsten meines Lebens.“
Egal unter welchem Namen – die Erfolgsgeschichte des MTV setzt sich mit zahllosen DDRMeistertiteln fort. Ab 1995 gehören die übrig gebliebenen Erfurter Faustballer wieder dem wiedergegründeten MTV 1860 an. 1998 gründen die Faustballer dann einen eigenen Verein und starten bis heute unter dem Namen Turnverein 98 Erfurt.
Unter der Führung des engagierten Abteilungsleiters Wilfried Appel holen die Faustballer des TV 98 bei den Männern und im Nachwuchs mehrere Landesmeistertitel. Mehr noch: Sie verbringen – wie einst Mayer auf dem Waldspielplatz – nun auf der Faustballanlage am Flughafen Stunden, die zu den glücklichsten ihres Lebens zählen.