Von mir bekommt er ein „Nein“
Was Türken im Freistaat über Erdogan und sein Referendum zur Verfassungsänderung denken
und groß „Hayir“an die Tafel schreiben. Das türkische Wort für „Nein“, das bekommt Erdogan von mir, sagt sie. Dafür muss sie nach Nürnberg fahren, in das für Thüringen zuständige Konsulat. Nicht der nächste Weg, aber das ist es ihr für dieses „Nein“wert. Sie verbrachte die Grundschulzeit in Deutschland, kehrte zurück in die Türkei, studierte, unterrichtete Deutsch. Seit 2008 lebt sie in Erfurt, hat hier geheiratet. Sie kennt das Leben in beiden Ländern. Vielleicht deshalb diese Empörung. Über Erdogan, das Referendum und über die Türken in Deutschland, die ihr „Ja“geben. Sie stimmen für eine Politik, sagt sie wütend, deren Folgen sie nicht tragen müssen. Sie leben ja hier, haben Rechtssicherheit, haben Meinungsfreiheit, sind längst entfernt von der Lebenswirklichkeit in der Türkei. Fast jeden Tag sitzt sie am PC, verfolgt die Nachrichten, die sozialen Netzwerke. Bewundernswert, wie viele Menschen in der Türkei noch wagen, ihre Meinung gegen Erdogan zu sagen. Manchmal denkt sie: Ich müsste jetzt dort bei ihnen sein.
Eine Gaststube in der Weimarer Innenstadt. Im Fernsehen laufen türkische Musikvideos, hinter dem Tresen dreht sich der Dönerspieß. Hier hilft Ali Riza Kilinc, Student in Jena, manchmal aus. Er ist Kurde, im Grunde, sagt er bitter, erlebt die türkische Gesellschaft jetzt in vielen Facetten, was die Kurden schon seit Jahrzehnten durchmachen. Für ihn ist Erdogans Politik nichts Abstraktes, sie berührt direkt die Frage, was mit ihm werden soll, wenn das Studium in Jena vorbei ist. Eigentlich wollte er in der Türkei als Wissenschaftler arbeiten oder als Journalist, wie schon vor dem Studium. Keine gute Zeit dafür. Sein Sender wurde inzwischen von den Behörden geschlossen. Kollegen haben das Land verlassen, oder sie verkaufen auf dem Markt Gemüse. Seine Zukunft? Er zuckt mit den Schultern. In der Türkei jedenfalls, sagt er, hat er keine.
Bevor die Liebe Cetin Cakir nach Thüringen verschlug, hat er Touristen durch die Sehenswürdigkeiten der Türkei geführt. Und jetzt? Tausende Hotelzimmer bleiben leer. Gerade erst war er in der Türkei. Viele Menschen sehen keine Alternative zu Erdogan, eine verstörende Erfahrung für ihn.
Und auf der anderen Seite hoffen sie, seine Politik werde schon nicht eingreifen, in ihr persönliches Leben. So wie sie hoffen, dass irgendwie doch die Touristen kommen. So irrational, so zerrissen, wie das ganze Land, diese Hoffnung. Sie stirbt, sagt er, bitter, ja zuletzt. Aber sie stirbt.
Vier Menschen, vier Ablehnungen. Von den etwa 1,4 Millionen türkischen Staatsbürgern in Deutschland leben etwa 1800 in Thüringen. Was ist mit lauten Befürwortern Erdogans? Als die Redaktion Gesprächspartner suchte, war niemand von ihnen bereit. Zufall, oder erzählt das womöglich etwas darüber, dass die kleine türkische Gemeinde in Thüringen anders verfasst, weil anders gewachsen ist?
Man bekomme, räumt Gökay Sofuoğlu ein, aus den neuen Bundesländern wenig mit, doch einen solchen Schluss mag er nicht ziehen. Er ist Bundesvorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland. Die Mehrheit der Türken hier, sagt er, denken konservativ, sie werden wohl mit „Ja“stimmen. Die Menschen, die damals nach Deutschland kamen, stammen aus ländlichen Gebieten, waren Hilfsarbeiter. Viele haben ihre Lebenshaltung an die Generationen nach ihnen weitergegeben. Er hofft, sagt er, dass nach den Verwerfungen wenigstens die Abstimmung ruhig weitergeht wie bislang. Aber sicher sei nichts. Man weiß nie, bemerkt er, was Erdogan noch in seinem Repertoire hat.
Die Folgen tragen nicht die Türken, die hier leben