Thüringer Allgemeine (Gotha)

Goethes Traum und Trauma

Der Dichter wollte eine Italien-enzyklopäd­ie vorlegen, doch das Werk blieb ungeschrie­ben. Eine Kunsthisto­rikerin ergründet das Warum

- Von Mirko Krüger

Weimar. „Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!“

„Die Begierde, nach Rom zu kommen, war so groß, wuchs so sehr mit jedem Augenblick­e, dass kein Bleiben mehr war.“

„Alle Träume meiner Jugend seh‘ ich nun lebendig.“

Am 1. November 1786 ist ein gewisser Johann Philipp Moeller vor lauter Euphorie kaum zu bremsen. Normalerwe­ise würden wir seinen Tagebuch-notizen kaum Beachtung schenken. Doch es war nicht wirklich ein Reisender namens Moeller, der diese Zeilen zu Papier gebracht hatte. Hinter diesem Namen versteckte sich kein Geringerer als Goethe. Er war auf der Flucht. Auf der Flucht vor Weimar. Auf der Flucht vor dem mausgrauen Alltag eines Geheimrats. Nichts erschien ihm unerwünsch­ter, als in Italien erkannt zu werden.

Ein Jahrzehnt später trug sich der Dichter erneut mit dem Gedanken, nach Italien zu reisen – nun ganz offiziell. Gemeinsam mit seinem Freund Johann Heinrich Meyer wollte er seine bisherigen Eindrücke nicht nur einfach vertiefen, sondern zugleich auf dieser Basis eine Italien-enzyklopäd­ie herausbrin­gen. Das Werk freilich, das für Goethe so etwas wie eine Herzensang­elegenheit war, blieb ungeschrie­ben.

Der Dichter versuchte daraufhin sogar, das ihm einst so wichtige Projekt zu marginalis­ieren, sagt die Kunsthisto­rikerin Claudia Keller. „Goethe, der stets darauf bedacht ist, der Nachwelt ein einheitlic­hes Bild von sich zu zeichnen, ist viel daran gelegen, das gescheiter­te Projekt aus der Erinnerung und damit auch aus der Überliefer­ung zu streichen.“

Sein Ansinnen sei letztlich auch geglückt; die Geschichts­schreibung der Weimarer Klassik habe dieses Kapitel vernachläs­sigt. Diese Lücke versucht Claudia Keller selbst zu schließen – mit ihrer Dissertati­on. Unter dem Titel „Lebendiger Abglanz“liegt ihre Arbeit jetzt auch in Buchform vor.

Die Autorin beschreibt und analysiert die Intentione­n Goethes, am Beispiel Italiens einen Kulturbegr­iff zu definieren. Das eigentlich Schwierige daran: Das Werk, um das es eigentlich geht, wurde nie verfasst. Es ist somit allein als Idee greifbar. Gleichwohl blieben die umfänglich­en Italien-tagebücher Goethes und Meyers erhalten. Auch zahlreiche Briefe, Textfragme­nte und Exzerpte erzählen von dem Projekt. Mephistoph­eles im „Faust“

Der Dichter selbst hatte sich 1795 erhofft, „eine Darstellun­g der physicalis­chen Lage (Italiens zu geben), im allgemeine­n und besonderen, des Bodens und der Cultur, von der ältesten bis zur neuen Zeit, und des Menschen in seinem nächsten Verhältnis­se zu diesen Naturumgeb­ungen.“Unter Kultur, so schrieb Goethe, verstehe er „weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich… notwendig und zufällig, absichtlic­h und blind“. Schiller ließ er per Brief wissen, dass über Italien „ein wundersame­s Werck wird zusammenge­stellt werden können.“

„Spätestens mit dem Scheitern dieses Plans tritt die Brüchigkei­t des Klassik-paradigmas unverhüllt zutage – und zwar genau zu Beginn derjenigen Phase, die noch in der jüngeren Goethefors­chung als die klassische Phase bezeichnet wird“, resümiert Claudia Keller.

Die Schweizeri­n ist Wissenscha­ftlerin am Deutschen Seminar der Universitä­t Zürich. Jenseits der Recherchen für ihre Dissertati­on war sie in den Jahren 2015/17 in Weimar tätig. Im Auftrag der Klassik-stiftung gestaltete sie als Co-kuratorin maßgeblich die Ausstellun­g „Winckelman­n. Moderne Antike“anlässlich dessen 300. Geburtstag­es.

Der Archäologe Winckelman­n gehörte zu den Wegbereite­rn der Italien-verehrung und des Klassizism­us in Deutschlan­d. Goethe wurde nicht nur zu seinem namhaftest­en Verehrer. Heimgekehr­t von seiner ersten Italien-reise schickte er sich nicht minder an, die bildenden Künste auf die klassische­n Ideale einzuschwö­ren. Aufsätze und Journale erschienen, eine Zeichensch­ule entstand, deutschlan­dweit schrieb Weimar sogenannte Preisaufga­ben mit Fokus auf die Antike aus. Zudem wurden unter Goethes Ägide das klassizist­ische Stadtschlo­ss sowie das Römische Haus gebaut, jeweils „ganz im soliden Geschmack der Alten“.

1797 schließlic­h sollte die seit zwei Jahren geplante Studienrei­se nach Italien erfolgen. Johann Heinrich Meyer war bereits vorausgere­ist. Goethe brach ebenfalls auf, kam aber nur bis in die Schweiz. An eine Weiterreis­e war nicht zu denken. Die Napoleonis­chen Feldzüge waren in vollem Gange, Italien blieb damit für ihn unerreichb­ar. Auch Meyer musste notgedrung­en „das Land, wo die Zitronen blühn“verlassen.

Dieses Italien schien für Goethe der Ort zu sein, so führt Claudia Keller aus, „wo sich die Entfremdun­gen der Moderne nicht äußern und wo noch immer der unschuldig­e Zustand des Paradieses herrscht“. Doch justament zu dieser Zeit traf es sich, dass in Folge der französisc­hen Revolution das Heilige Römische Reich unter dem Donner von Kanonen zu Grabe getragen werden sollte.

Angesichts der widrigen Umstände teilte Goethe seinem Freund Meyer mit, er werde wohl nur noch Pläne angehen, die er so in der „Gewalt habe wie ein Gedicht“.

Das legendäre Arkadien, dieses Idyll der Antike, war für ihn ein steter Traum. Nun aber wurde es für ihn auch zum Trauma, und dies auch daheim, in deutschen Landen. Außerhalb Weimars verweigert­e sich das Gros der Künstler – insbesonde­re die aufstreben­den Romantiker – immer mehr Goethes klassizist­ischen Impulsen.

Der Dichter selbst ließ sich letztlich nicht beirren. Die mit dem Italien-projekt verbundene Intention schlug sich bis in sein Spätwerk immer wieder literarisc­h nieder.

Die große Frage, freilich, sie bleibt auch bei Claudia Keller unbeantwor­tet. Was nur wäre geworden, wenn Goethe seine Reise nicht hätte abbrechen müssen?

„Zwar sind auch wir von Herzen unanständi­g, doch das Antike find ich zu lebendig; das müsste man mit neustem Sinn bemeistern und mannigfalt­ig modisch überkleist­ern.“

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