Thüringer Allgemeine (Gotha)

Dunkle Schatten an „Neujahr“

Panikattac­ken und Identitäts­krise: Juli Zehs dritter Roman umkreist die Leiden des modernen überforder­ten Familienva­ters

- Von Birgit Zimmermann

Nach zwei Romanen bei politische­n Themen hat sich Juli Zeh mit „Neujahr“auf das Private verlegt. Es geht um modernes Familienle­ben – und um die Schatten der Vergangenh­eit. Wie gut gelingt der Blick in die Psyche eines angeschlag­enen Familienva­ters?

Juli Zeh (44) ist eine der politische­n Autorinnen der Gegenwart. Im Bundestags­wahlkampf ergriff die Juristin und Schriftste­llerin Partei für die SPD, ihre jüngsten Bücher behandeln gesellscha­ftlich drängende Themen.

In „Unterleute­n“(2016) ließ sie eine brandenbur­gische Dorfgemein­schaft zerfallen, „Leere Herzen“(2017) war ein Politthril­ler in einem Deutschlan­d der besorgten Bürger in nicht allzuferne­r Zukunft. Für ihr literarisc­hes Werk erhielt die in Brandenbur­g lebende Juli Zeh unter anderem den Thomas-mann-preis (2013) und den Hildegard-von-bingen-preis (2015).

Jetzt ist mit „Neujahr“ihr drittes Buch bei Luchterhan­d erschienen – und es ist verglichen mit den Vorgängern fast ein Rückzug ins Private und führte die Bestseller­listen an.

Hauptfigur ist der zweifache Vater Henning. Über Silvester macht er mit seiner Familie Urlaub auf Lanzarote. Alles scheint gut zu sein. Zusammen mit seiner Frau Theresa teilt er sich mustergült­ig die Betreuung der beiden kleinen Kinder. Beide haben ihre Jobs reduziert – was in Hennings „leicht linkslasti­gem Sachbuchve­rlag“in Göttingen übrigens schwierige­r ging als in Theresas Steuerbüro.

Am Morgen des titelgeben­den Neujahrs macht er sich mit einem geliehenen Fahrrad alleine ins Bergdorf Femés auf. Seine Ausrüstung ist miserabel, Proviant nicht vorhanden. Während er gegen Wind und Steigung kämpft, rekapituli­ert er seine Lebenssitu­ation. Eigentlich ist alles in Ordnung, die Kinder gesund, der Job passabel. Doch mit jedem Tritt, mit dem Henning den Berg hinauf strampelt, wird deutlich, dass gar nichts gut ist. Denn ihn plagen seit der Geburt seiner Tochter Panik-attacken. Er zweifelt an seiner Rolle als moderner Vater, das Familienle­ben reibt ihn auf. Seit dem Silvestera­bend zweifelt er auch noch an Theresa, die beim festlich-schrecklic­hen Dinner im Hotel etwas zu offensiv mit einem Franzosen geflirtet hat.

Aber worin wurzeln die Zweifel des Mannes? In der Gegenwart der Bilderbuch­familie – oder in der Vergangenh­eit? Juli Zeh nimmt den Leser im wahrsten Sinne des Wortes mit auf eine Berg- und Talfahrt. Elegant verknüpft sie die aktuellen Fragen, die moderne Familien heutzutage so umtreiben, mit einem dunklen Geheimnis aus Hennings Kindheit. Das, so wird es bei der Hatz die Bergstraße hinauf immer deutlicher, hat mit Lanzarote und Femés zu tun.

All das liest sich wie von Juli Zeh gewohnt gefällig – und im Fall von „Neujahr“weg.

Wirklich fesselnd wird es im zweiten Teil des Buches, als Henning plötzlich vor den Schatten seiner Kindheit steht. Dann wechselt die Erzählerpe­rspektive von dem erwachsene­n Mann auf den Jungen. Traumakonf­rontation als Mittel zur Bewältigun­g. Dann jedoch kommt das Ende – und zwar schmerzvol­l kurz.

„Neujahr“ist mit 191 Seiten schlank ausgefalle­n. Es ist Zehs drittes Buch in drei Jahren. Klar, eine Fahrt einen Berg hinauf dauert länger als hinab.

Aber warum muss es so rasend schnell bergab gehen? (dpa)

▶ überrasche­nd schnell

Juli Zeh: Neujahr Luchterhan­d Verlag, München ,  Seiten,  Euro

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