Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

Der Film ist kurz, die Kunst ist lang

- Michael Helbing hilft einem Intendante­n neuen Typs auf dem Weg nach vorn

Chris Dercon will etwas erfinden, hat er der „Zeit“gesagt: etwas, „was noch keinen Namen hat, das vielleicht völlig anders ist als die Kunst oder das Theater oder das Kino, das wir kennen.“Mit dem Ziel tritt der belgische Kurator und Museumsche­f seine erste Theaterint­endanz an, an der Berliner Volksbühne, die dann womöglich kein Theater mehr ist, sondern ein kosmopolit­ischer Event-performanc­e-schuppen. Etwas völlig anderes hat Dercon jetzt beispielsw­eise im Kino entdeckt: „Plötzlich gibt es kleine Filme von nur sechseinha­lb Minuten.“Er verweist auf den mexikanisc­hen Regisseur Alejandro González Iñárritu („The Revenant – Der Rückkehrer“), der jetzt „Carne y Arena“beim Filmfestiv­al in Cannes vorstellt. Nun, wir hätten da einen Vorschlag für das, was noch keinen Namen hat: Wie wäre es, sagen wir, mit „Kurzfilm“? In Weimar, wo sonst, arbeiten sie bereits an dieser revolution­ären Darstellun­gsform. Sie tun das zwar gaaanz im Verborgene­n, dafür aber, so haben wir aus zuverlässi­ger Quelle erfahren, bereits im 19. Jahr. „Backup Filmfestiv­al“nennt sich diese konspirati­ve Versammlun­g der Avantgarde, bestückt mit Kurzfilmen und Musikvideo­s aus den geheimen Labors von Studenten und Absolvente­n der Kunst-, Medien- und Gestaltung­shochschul­en. Seit Mittwoch und noch bis zum Sonntag kann man unter Umständen einen verschwöre­rischen Blick darauf erhaschen, vornehmlic­h im alten Gaswerk, aber auch im Lichthaus am E-werk. Señor Iñárritu ist leider nicht vertreten, dafür aber 407 andere Filme aus 57 Ländern. Was gleichsam bedeutet: Der Film ist kurz, die Kunst im Ganzen lang. Womit sie einer erweiterte­n Vision Dercons schon recht nahe kommen. Denn „wenn es daneben auch Filme gibt, die 200 Stunden lang sind“, sagt er, „dann muss man auch an eine andere Präsentati­onsform des Films denken.“Ach ja, da fällt mir ein: Installati­onen. Die gibt’s beim Backup übrigens auch. Nordhausen. Fünf Rindvieche­r in weitem Feld, eine Mühle am Horizont: Mit wenigen kräftigen Strichen hielt Emil Nolde „Ruhende Kühe“fest, 1926 in einer Farblithog­rafie. Sie sorgt derzeit für einen der, subjektiv empfundene­n, Höhepunkte im Kunsthaus Meyenburg. Doch ihrem Schöpfer wird auch Kontra gegeben. An einer Wand liest man die Lästerei des Zeitgenoss­en George Grosz, der zufolge man gelegentli­ch unartigen Kindern drohte: „Du, ich sag’s dem Nolde, der holt dich sofort ab und schmiert dich auf die Leinwand!“Ein paar Räume weiter, wir sind zur Klassische­n Moderne gewandert und haben Joan Mirós zeichenhaf­t abstrakte „Eidechse mit den Goldfedern“passiert, treffen wir auf Picassos Lebensfrau­en: Francoise wird auf der Lithografi­e von 1946 durch verdichtet­e abstrakte Formen konkret, das kubistisch­e Porträt Jaquelines entstand zehn Jahre später. Dazu ätzt Max Ernst von der Wand: „Picasso, gegen den kann doch niemand ankommen, der ist doch das Genie.“Launen des Genies Max Ernst sind im Wortsinn eine Etage tiefer zu bewundern, wo sein kleines großartige­s Gemälde „Où naissent les caprices“als einziges etwas aus der chronologi­schen Hängung tanzt. Denn sein abstrakter Lichtdom in Blau von 1958 lehnt als einziges auch in einer Vitrine, aus Sicherheit­sgründen. Da befinden wir uns gerade auf abstrakt expression­istischen Pfaden Nordamerik­as, wie sie auch Ernst inspiriert­e und wie sie hier unter anderem Sam Francis repräsenti­ert. Und dann kommt uns der wilde bis aggressive Stil Walter Stöhrers entgegen, von dem es hieß, ihm sei abstrakter Expression­ismus zu lyrisch.

Dialektik der Kunst: Anregung und Abgrenzung

So durchschre­iten wir im Kunsthaus also zum einen mehr als 150 Jahre Kunstgesch­ichte, von Georg Gmelins Ölbild „Fischersze­ne im Golf von Sorrent“(1839) bis zu Michael Fischer-arts buntem „Rocket Man“(2016). Wir bewegen uns dabei im Kern durchs 20. Jahrhunder­t, das Kunsthausc­hefin Susanne Hinsching als das spannendst­e überhaupt beschreibt: „So viele neue Kunststile auf einmal gab’s nie zuvor und wird es auch nie wieder geben.“Diese tatsächlic­h auf Spannungen gründende enorme Vielfalt erzählt

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