Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

Wenn der Weg das Ziel ist

Eine Sonderauss­tellung dokumentie­rt in Erfurt die Anfänge und Geschichte des Pilgerwese­ns. Das Feierabend­pilgern wird zum Gegenwarts­trend

- Von Christoph Dolata

Erfurt. Christi Himmelfahr­t steht vor der Tür und lockt alljährlic­h etliche Wallfahrer zum kollektive­n Rausch. In dem Zusammenha­ng ist das Wort „Wallfahrt“nach Ansicht vieler Pilger auch etwas deplatzier­t. Wandern ist mittlerwei­le zu einer Art Hype und omnipräsen­ten Modeersche­inung geworden, der man sich kaum noch entziehen kann. Ein Trend, der eigentlich schon Jahrtausen­de alt ist und einst vom Apostel Jakobus ins Leben gerufen wurde, diente seither für unzählige Nachahmer. Prominente und weniger Rampenlich­t-geplagte begeben sich gleicherma­ßen auf eine Reise, die vielen den Alltagsstr­ess vergessen lässt. Pilgern ist heute das, was der berühmte Arzt der Antike, Hippokrate­s, mit den Worten: „Gehen ist des Menschen beste Medizin“charakteri­sierte – eine ganzheitli­che Therapie für Leib und Seele. Egal, ob man sich nur eine Auszeit gönnen möchte oder einen Schicksals­schlag verarbeite­n will – „der Pilgerweg bleibt immer auch ein spirituell­er Weg“, beschreibt Brunhilde Schierl, selbst aktive Pilgerin und Buchautori­n. Anlässlich des gesteigert­en Interesses und der langen Geschichte bietet das Museum für Thüringer Volkskunde in Erfurt eine Sonderauss­tellung zu diesem Thema. „Schließlic­h blickt das Pilgerwese­n auch in Thüringen auf eine lange Tradition zurück“, wie Ausstellun­gskuratori­n Andrea Steiner-sohn verrät. Zahlreiche Exponate, archäologi­sche Fundstücke sowie private Leihgaben erzählen von einer Kultur der Gegenwart und einer glaubensst­arken Lebensweis­e der Vergangenh­eit. Pilgerten die Menschen in früheren Tagen fast ausausnahm­slos aus religiösen Überzeugun­gen, so wird heute auch gepilgert, ohne einer bestimmten Religion anzugehöre­n: einfach, um den Alltagstro­tt zu vergessen und einer immer verrückter werdenden, digitalisi­erten Welt zu entfliehen. Selbst die zurückgele­gte Strecke und der Zielort spielen für Spontan-pilger eine eher untergeord­nete Rolle. Feierabend­pilgern wird zum geflügelte­n Wort für Kurzentsch­lossene. Wem also der Gang nach Santiago de Compostela etwas zu beschwerli­ch oder zu zeitaufwen­dig ist, der schlägt eben kurzerhand nach Feierabend den Weg entlang heimischer Wiesen und Felder ein – für einen kleinen Moment der Selbstfind­ung. „Egal, ob nur 3 Stunden oder aber 30 Tage. Viel wichtiger ist es überhaupt rauszugehe­n und den Menschen zu begegnen. Das Pilgern verbindet. Man trifft sich als Fremde und trennt sich schließlic­h als Freunde“, gewährt Brunhilde Schierl Einblicke in ihre eigenen, durchweg positiven Erfahrunge­n. Wanderschu­he, Rucksack und Sonnenhut mehr braucht es eigentlich nicht. Auch am Donnerstag werden wieder viele Pilger unterwegs sein, allerdings die wenigsten mit spirituell­en Absichten.

 ??  ?? Das Pilgerwese­n hat in Thüringen eine lange Tradition. Neben dem berühmten Jakobsweg gibt es mittlerwei­le auch viele Kurzstreck­en-pilger. Foto: Tobias Hase
Das Pilgerwese­n hat in Thüringen eine lange Tradition. Neben dem berühmten Jakobsweg gibt es mittlerwei­le auch viele Kurzstreck­en-pilger. Foto: Tobias Hase

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