Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Alle spür’n das Wunder
Nationaltheater und Stellwerk-theater gelingt mit 50 jungen Menschen in „Frühlings Erwachen“eine Musicalsensation im E-werk
Weimar. Wendla, 14, glaubt nicht mehr an den Klapperstorch. Aber selbst, als sie vom Storch gebissen wird, Melchior sie also nicht nur küsst, wird sie nicht wissen, dass man derart Kinder macht – und ihr eines gemacht wurde. Ihr wird übel werden und sie es für Bleichsucht halten. Sie wird sterben unter den Händen des Engelmachers und nie erfahren, dass sie schwanger gewesen ist. Das ist, zum Beispiel, was Frank Wedekind „eine Kindertragödie“nannte. So klassifizierte er 1891 sein Drama, das durchaus auch komödiantisch gemeint war, aber bis zur Uraufführung 15 Jahre später vor allem pornografisch gelesen wurde. Wedekind schrieb ein Stück, darin liegen die Tragik und der Witz gleichermaßen, über Sprachlosigkeit in einer autoritären, bigotten, prüden Gesellschaft, wenn es um Liebe, Lust und Leidenschaft geht: Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, jungen Menschen und ihren Körpern. Daraus wurde jetzt aber in Weimar, in Duncan Sheiks 2006 in New York uraufgeführter Rockmusicalversion „Spring Awakening“, ein unglaublich faszinierendes Jugendtheaterereignis, das auf vollständige Verständigung abhebt: im heterogenen Ensemble mit 50 Leuten von 14 bis 27 Jahren (darunter fünf Iraner) ebenso wie mit dem Publikum. Es geht um direkte Ansprache, sie senden auf allen Kanälen.
Das findet statt unterm sehr in Mode befindlichen Stichwort der Inklusion, wird gefördert von der „Aktion Mensch“und vereint Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen wie auch künstlerischen, sozialen und körperlichen Voraussetzungen. Was sie alle auf der Bühne im Weimarer E-werk formal verbindet: Neben einem intensiven und hörbar wirksamen Gesangstraining haben sie binnen acht Monaten Probenzeit Gebärdensprache geübt. Nach den Übersetzungen der hörgeschädigten Lisa Kröger ist dieser Gestenapparat spielerisch und choreografisch höchst eindrucksvoll in den Abend integriert worden. Hinzu treten englische Übertitel (sowie bei einer Vorstellung für Blinde und Sehschwache im Juni Audiodeskription und Programmhefte in Brailleschrift). Was sie alle inhaltlich beziehungsweise emotional verbindet, ist die so beglückende wie verwirrende und nicht selten auch schmerzhafte Erfahrung, wenn gleichsam der eigene Körper und mit ihm eine ganze Gefühlswelt zu explodieren beginnt. Der Abend beschreibt den abenteuerlichen, unabweisbaren und angstbesetzten Eintritt in die Welt feuchter Träume. So inszenierten ihn Otto A. Thoß (Nationaltheater) und Steffi Heiner (Theater Stellwerk). Sie taten es im und am Schwimmbecken, das Philip Rubner dem verfallenden Berliner Stadtbad Lichtenberg nachempfand. Das mag, mit Rostspuren und abgeblätterter Farbe, auf die in Teilen veraltet scheinende Herkunft des Stoffes verweisen. Sozusagen als ausgetrocknetes Feuchtgebiet steht’s womöglich aber auch für das Umfeld, von dem Jugendliche, im Saft stehend, auf dem Trockenen sitzen gelassen werden. Einer lustfeindlichen Erwachsenenwelt zum Trotz, durch die Bank weg verkörpert von zwei Schauspielern (am Premierenabend Elke Wieditz und Markus Fennert), belassen sie es in ihren fleckig-scheckigen Kostümen (Sarah Antonia Rung) aber nicht bei Trockenübungen. Vor uns, neben uns, unter uns singt und spielt das Ensemble von all dem Zauber und all der Pein in der Pubertät, von all den Konflikten mit sich selbst und einer Elterngeneration, die immer noch mit Sprachlosigkeit kämpft. Es geht um Selbstbefriedigung (David Bong mit dem berühmten Hänschen-monolog), homoerotische Erfahrung (Jendrik Rabe als Ernst), Kindesmissbrauch (Katja Brautzsch als Martha), Selbstmord (Martin Schäfer als Moritz). Zu sagen, dass die Studenten Sophie Charlotte Schröder und Christoph Kurzweil als Wendla und Melchior gesanglich und spielerisch die Stars des Abends sind, wäre ebenso richtig wie ungerecht. Denn zugleich ist dieses große Ensemble der Star, da es so pur, so direkt, so ehrlich, so stark und berührend auftritt, zum Glück nicht auf Perfektion, aber auf hohe Professionalität bedacht. Alle sind immer anwesend, der Einzelne tritt aus der Masse heraus und steht fürs Ganze. Wenn Wendla und Melchior zärtlich zueinander finden und sich entkleiden, werden bald alle zum Song „Ich vertrau: Liebe ist Erlösung, alles wird vergeben“Kleider ablegen. Nach der Pause ziehen sie sich wieder an: „Die Schuld steckt nun in unsren Körpern“. Eine achtköpfige Profikapelle unter André Kassels Leitung trägt den Abend musikalisch souverän und pointiert, mitunter übertönt sie die Sänger allerdings. Das Musical endet auf dem Friedhof, aber dem Leben zugewandt: „Alle spür’n das Wunder“, heißt es im Finale. Und das gilt für dieses wahnsinnig aufwendige Projekt, mit stehenden Ovationen bedacht, ebenso. Intendant Hasko Weber verneigte sich am Ende in Wort und Tat davor. Dem Beispiel muss man einfach folgen.
Großes starkes Ensemble, das pur, direkt und ehrlich auftritt
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Weitere (noch nicht ausverkaufte) Vorstellungen: heute um Uhr, . & . Mai jeweils und Uhr, . Juni um Uhr, . Juni um Uhr