Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Kein Programmzettel wie jeder andere
ber die Abhängigkeit des Erzählers vom Hörer sprach Frau Professor gerade. So viel bekam ich mit. Auch, dass sich Michael Köhlmeier seine „Double-tales“im Roman „Abendland“bei Plutarch abgeschaut habe . . . Aber ganz bei der Sache war ich in diesem Moment nicht mehr, nicht mehr bei dieser jedenfalls. Und andere in diesem arenagleichen Saal schweiften ebenfalls ab, derweil die Laudatorin fortfuhr zu reden; sie war mithin nicht ganz so abhängig von ungeteilter Aufmerksamkeit. Derweil verfolgte ich mit wachsender Spannung, und nicht ich allein, wie auf der gegenüberliegenden Seite der Arena im Musikgymnasium Belvedere, mit einiger Mühe und unter unterdrücktem Geflüster, ein Programmzettel von einem Festgast zum nächsten wanderte. Was merkwürdig war, da doch ein jeder im Saal über einen solchen Zettel verfügte. Er kündete vom Ablauf der Vergabe eines Literaturpreises, den die der CDU nahestehende Konrad-adenauer-stiftung alljährlich in Weimar zu überreichen pflegt. Dieser eine Zettel allerdings musste wohl anders sein als die anderen. Er enthielt offenkundig eine Botschaft für einen ganz bestimmten Adressaten. Als die Laudatorin schließlich erläuterte, der Künstlerroman „Abendland“räume auch der Mathematik einen Platz ein, ließ sich beinahe schon eins und eins zusammenzählen. Der Zettel war angekommen: bei Hans-gert Pöttering, der der Adenauer-stiftung vorsteht, der die Botschaft irritiert zur Kenntnis nahm und bald darauf ans Pult eilte: „Man teilte mir soeben mit, dass der Oberbürgermeister der Stadt Weimar unter uns ist. Herzlich willkommen, Stefan Wolf!“Pöttering hatte zuvor Gäste besonders begrüßt, die fast alle, vom Bundestagspräsidenten abwärts, seiner Partei angehören. Den OB aber, einziger offizieller Soze im Saal, vergaß er. Zufall? Er erzählte zumindest was über die Abhängigkeit der Wahrnehmung vom Standpunkt.