Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Eine wunderbare Heiterkeit
Die schwedische Stadt Malmö war in der DDR ein Sehnsuchtsort. Man kannte den Ort nur von der Durchsage auf großen Bahnhöfen der Deutschen Reichsbahn. Am Berliner Ostbahnhof, später am Bahnhof Lichtenberg, fuhr der sogenannte Saßnitz-express mit Schlafwagen zwischen Belgrad und Budapest nach Malmö. Die Züge hatten Namen wie Vindobona oder Hungaria, das war die Verheißung einer anderen Welt außerhalb der grauen DDR. Wenn dann die Stimme im Lautsprecher alle Reiseorte aufzählte, war ein Seufzer nicht mehr weit: Ach, Malmö. Diese Stadt in dem von Frieden beseelten Land hat sich in den vergangenen Jahren der dunklen Seite zugewandt. Zumindest erscheint es so. Fernsehserien im Stile des Nordic Noir verstärken diesen Eindruck. Man denke nur an „Die Brücke – Transit in den Tod“, für die gerade wieder neue Folgen gedreht werden. So scheint es in Malmö eine Sehnsucht nach Harmonie, nach ein bisschen Romantik zu geben. Die Zeit um „midsommar“ist dafür offenbar gut geeignet. Aus dem Lautsprecher einer Haltestelle am Westhafen konnte man vor wenigen Tagen auf Englisch diese Worte hören: „Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend.“Auf Youtube kann man sich dazu ein Videoschnipsel anschauen.
Es ist die Notiz vom 10. Mai 1771 aus dem Buch, das Goethe weltberühmt gemacht hat: „Die Leiden des jungen Werthers“. Aufmerksamen Fahrgästen ist das angeblich sofort aufgefallen. Sollten die Schweden unseren Nationaldichter neu entdeckt haben? Die Tageszeitung „Sydsvenskan“hat die Wahrheit herausgefunden. Sie ist nüchtern. Die Durchsage war nichts weiter als ein technischer Test, ein akustischer Blindtext, ein „Lorem ipsum“für die Ohren. Immerhin haben sie Goethe dafür genommen.
Professor Kahl, wie erforscht man eine Sprache, für die es kein Grammatik-lehrbuch gibt?
Losgehen, zuhören und aufschreiben, so wie man es mit Sprachen immer gemacht hat. Auch in der uns vertrauten Grammatik hat das irgendwann stattgefunden. Die Sprachen sind ja viel älter als ihre Beschreibungen.
Wo sind Sie unterwegs?
In Südosteuropa, im Prinzip in allen Ländern des Balkan.
Schwer zu glauben, dass es unerforschte Sprachen in Europa gibt.
In Europa geht es weniger um die Standardsprachen, sondern um Dialekte. Wo Staaten oft genug damit zu tun haben, einen Dialekt als Nationalsprache durchzusetzen und gegen regionale Varianten eingestellt sind. Vor allem dadurch werden Dialekte verdrängt. Das war früher in Deutschland nicht anders. Bevor man sich für Plattdeutsch oder Bayrisch interessierte, musste zuerst einmal ein gemeinsames Deutsch durchgesetzt werden. In einem solchen Prozess gehen viele Randsprachen verloren, auch dafür interessieren wir uns.
Es geht mehr um Dialekte, als um unbekannte Sprachen?
Der Verlust trifft Dialekte und Sprachen. Die Definition, was ist Sprache und was Dialekt, ist ohnehin eine politische. Das kann man auch in Europa heute finden.