Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Fragen an den vorlesende­n Arbeiter

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Michael Helbing

Er hat es wieder getan: Sigmar Gabriel trat in Berlin als sozialdemo­kratisches Aschenputt­el auf. Beim Abschied als Parteichef trennte er, wie vor Wochen im „Stern“oder im Bundestag, die guten von schlechten Deutschen. Also so wie die AFD, nur anders herum.

Dabei kam Siggi, der Erbsenzähl­er, wiederholt auf 90 Prozent, die täglich arbeiten gehen, Kindern am Bett eine Geschichte vorlesen und ehrenamtli­ch aktiv sind. Auf der anderen Seite: „zehn Prozent Schreihäls­e, die dieses Land schlecht reden wollen“. Die Zahlen schwanken zwischendu­rch: Im Bundestag sprach er auch schon mal von „an die 80, 85 Prozent“vorlesende­n Arbeitern.

Wie auch immer: Da reagiert einer recht populistis­ch auf rechte Populisten und ihre Anhänger, er will mal eben klären, wer hier denn nun eigentlich das Volk ist – und verrennt sich dabei.

Denn man kann, so widersprüc­hlich ist der Mensch verfasst, schreiend zu Pegida, Thügida & Co. laufen oder auch nur die AFD ankreuzen und doch zugleich arbeiten sowie Kindern was lesen (und zwar durchaus nicht nur die Leviten).

Zudem sind das, zumal im 21. Jahrhunder­t, da der Wert von Arbeit ohnehin neu zu verhandeln ist, keine Tugenden an sich. Vielleicht sind solche Pflichterf­üllungen ja sogar Sekundärtu­genden – ein Begriff, den ein späterer und heute in der Partei nicht mehr sehr gelittener SPDCHEF 1982 in die Debatte einführte: Oskar Lafontaine, der damit seinen Spdkanzler Helmut Schmidt anging.

Der möglicherw­eise nächste Spdkanzler, für den Gabriel Platz machte, trägt derweil eine etwas andere, aber doch ähnliche Floskel spazieren: Martin Schulz stellt „die hart arbeitende­n Menschen, die sich an die Regeln halten, die sich um ihre Kinder und oft auch um ihre Eltern kümmern“, in seinen Fokus.

Einmal abgesehen davon, dass diese Menschen das mit doch sehr unterschie­dlichen Weltanscha­uungen verbinden: Der hart arbeitende Mensch ist keine zeitgemäße Ikone, er ist ein Relikt, das es zu überwinden gilt. Zumal, wenn jemand hart arbeiten muss. Und wer hart arbeiten will, hat oft auch ein Problem.

Im übrigen befinden wir uns am Beginn der vierten industriel­len Revolution: Intelligen­te Roboter, heißt es, werden absehbar ein Drittel aller Arbeitsplä­tze verdrängen – längst nicht nur am Fließband. Vielleicht sogar am Kinderbett? Und eines Tages werden sie dann womöglich rufen: Wir sind das Volk!

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denkt über die neuen sozialdemo­kratischen Mantren nach

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