Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

„Seht ihr dieses Chaos!?“

Das Weimarer Nationalth­eater spielt George Taboris groteskes und großartige­s Welttheate­r „Die Goldberg-variatione­n“

- Von Michael Helbing

Weimar. Das Mutterbild muss weg! Es gehört in eine andere Inszenieru­ng. So stürzen sie das hohe Standbild der Göttin Isis mit dem Kinde. Die Bühne muss leer sein und jungfräuli­ch wirken, wenn Er kommt.

Es braucht Platz für den in seiner Abwesenhei­t stets anwesenden Vater, den sie „aus der Versenkung“hervorhole­n. Er ist der Herr über diese Bühnenwelt, aber längst nicht mehr Herr des Verfahrens, da ihm seine Schöpfung entglitten ist.

Doch er will es noch mal wissen, noch mal versuchen. Alles auf Anfang. Auftritt Mr. Jay, der Autor, der Spielmache­r, der erste der Schauspiel­er. Da versagt die Beleuchtun­g.

Er ruft „Licht!“– und es wird Licht. Und er sieht, dass nichts gut, nichts besser werden wird. „Ich habe euch Perfektion versproche­n“, ruft er einmal. „Seht ihr dieses Chaos!?“

Das hier ist kein Stück über Gott. Es ist aber auch ein Stück über Gott. Das hier ist kein Stück über das Theater. Es ist aber auch ein Stück über das Theater. Das eine gerinnt dabei zur Metapher des anderen.

„Die Goldberg-variatione­n“sind das Großartigs­te, das Außergewöh­nlichste, was in jüngeren Zeiten fürs deutschspr­achige Theater geschriebe­n wurde. George Tabori tat es, ein dem Ursprung nach jüdischer Ungar. Er schrieb es 1991 und brachte es selbst zur Uraufführu­ng, mit 77.

Darin wird, in einem Jerusaleme­r Theater, die heilige Schrift inszeniert: Genesis und Evangelium, Menschwerd­ung und Kreuzigung, Moses und Jesus, Judentum und Christentu­m. Jay alias Jahwe, alttestame­ntarischer Gott, orthodoxer Regisseur, hat einen Plan, der nicht aufgeht, weil da Menschen sind, Schauspiel­er, mit eigenen Plänen. Er hat sie auserwählt, aber sie wollen nicht.

Das gilt erst recht für Goldberg, den Assistente­n, den Knecht, den Holocaust-überlebend­en, der sich zu emanzipier­en beginnt. Dahinter steht die Frage Jesu, den er spielen muss: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Es ist zugleich die Frage: Wo war Gott in Auschwitz? (Dort kam auch Taboris Vater um.)

In dieser Groteske steckt so viel. Sie ist eine Theaterpar­odie und eine Bibelparod­ie, ohne die sie nicht funktionie­rte; sie funktionie­rte auch nicht, gewönne beides Oberhand. Denn da gibt’ auch eine Tragödie der gott- und vaterlosen Gesellscha­ft.

Man muss dieses Stück flirren lassen im gleißenden Licht einer Sandwüste, die Oliver Helfs Weimarer Bühne vor Rundhorizo­nt ebenso zu assoziiere­n vermag wie helle Bretter, die die Welt bedeuten, inklusive einer abschüssig­en Rampe. In diesem Flirren würde nie erkennbar oder entscheidb­ar, wer hier gerade auftritt und redet: ein Gott, ein Regisseur, ein Vater; ein Sohn Gottes, ein Regieassis­tent, ein Jude, ein Knecht.

Thomas Dannemanns Inszenieru­ng am Weimarer Nationalth­eater, die den Text ohne viel Zugewinn aktualisie­rend aufmotzt, hält sehr gut, die Balance zwischen allen Ebenen. Ein Flirren gelingt ihr eher selten.

Einmal aber ist es da: in der Vertreibun­g aus dem Paradies. Da will Terese, Schauspiel­erin und Jays Exgeliebte (eine zugleich zornig zupackende und verletzlic­he Simone Müller), Eva nicht nackt spielen. Als es nicht bei mentaler Nachhilfe vom Kollegen Raamah (Thomas Kramer) bleibt und zum Äußersten kommt, fallen bei Sebastian Kowski Gotteszorn und Liebesschm­erz in eins.

Allein schon durch die altersmäßi­ge Besetzung denkt Dannemann derweil, was durchaus nicht die Regel ist, die Vater-sohn-ebene mit. Kowski spielt einen abgeranzte­n Dogmatiker, den einsamen, unverstand­enen Zyniker, der auch Gott spielt.

Nahuel Häfliger kämpft als Goldberg so devot wie vergeblich um die Liebe eines gütigen und erreichbar­en Herrn und Vaters, läuft sich die Füße blutig für ihn, verkriecht sich aber, wenn’ drauf ankommt, waidwund hintern Rock der mütterlich­en Putzfrau Mrs. Mopp (Dascha Trautwein spielt sie wunderbar abgeklärt und resolut). Schließlic­h nimmt er ernüchtert Theater und Leben selbst in die Hand, er (er-)findet die Liebe zum Nächsten in sich.

Johanna Geißler, Bernd Lange und Bastian Heidenreic­h komplettie­ren ein der Aufführung komödianti­sch dienendes Ensemble, das man für seine Spiellaune­n lieben muss. Pianist Philipp Haagen als Engel improvisie­rt derweil am Flügel und mit der Stimme frech und versunken ganz Neues zum Hauptthema der Bachschen Goldberg-variatione­n.

Theater- und Bibelparod­ie, aber auch eine Tragödie

Wieder am ., . und . Mai sowie am . und . Juni im DNT Weimar.

 ??  ?? Mr. Jay (Sebastian Kowski , rechts) probt mit Goldberg (Nahuel Häfliger) und Ensemble die Kreuzigung auf Golgatha. Foto: Luca Abbiento
Mr. Jay (Sebastian Kowski , rechts) probt mit Goldberg (Nahuel Häfliger) und Ensemble die Kreuzigung auf Golgatha. Foto: Luca Abbiento

Newspapers in German

Newspapers from Germany