Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Historischer Moment mit Konfetti
Der Bundestag gibt grünes Licht für die „Ehe für alle“. Was das Gesetz für Homosexuelle und die große Koalition bedeutet
Berlin. Bei den Grünen gibt es am Freitag schon um 9.15 Uhr ein Gläschen Sekt. Dann wird auch noch eine Torte angeschnitten, garniert mit den Regenbogenfarben der Lesbenund Schwulenbewegung. Volker Beck, populärster grüner Kämpfer für Homosexuelle, umarmt Fraktionschefin Katrin Göring-eckardt, hebt sie sogar kurz hoch. Sie sagt: „Ich freu mich einfach wahnsinnig.“Ausgelassene Stimmung vor dem Fraktionssaal der Öko-partei im Bundestag. Es ist ein bisschen wie Karneval.
Es gibt was zu feiern: Im Bundestag wird an diesem Morgen die „Ehe für alle“beschlossen – mit den Stimmen von SPD, Grünen, Linken sowie etwa einem Viertel der Abgeordneten der Unionsfraktion. Als Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) das deutliche Ergebnis verkündet, werden in den Reihen der Grünen Konfettikanonen gezündet. Bunte Schnipsel rieseln auf die Abgeordneten nieder.
Es herrscht eine ungewöhnlich emotionale, aufgekratzte Stimmung an diesem frühen Morgen im Bundestag. Es ist nicht irgendein Gesetz, über das hier ab acht Uhr debattiert wird. Es hat einen hohen symbolischen Wert: Die Abstimmung über die „Ehe für alle“ist, und das wird auch in vielen Reden erwähnt, eine historische Entscheidung. Die letzte rechtliche Gleichstellung ist vollzogen.
Was steht im Gesetz – und was bedeutet das?
In Paragraf 1353 des Bürgerlichen Gesetzbuches heißt es in Zukunft: „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.“Der ursprüngliche Satz wurde um sieben Wörter ergänzt: „von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts“. Seit 2001 können gleichgeschlechtliche Paare eine Lebenspartnerschaft eintragen lassen. Zunächst gab es viele Unterschiede zur traditionellen Ehe. Viele wurden auf Druck des Bundesverfassungsgerichts beseitigt, etwa im Erb- oder Steuerrecht. Nun dürfen Homosexuelle heiraten – wie in vielen anderen Ländern Europas.
Was ändert sich konkret für Homosexuelle?
Praktisch ändert sich mit der „Ehe für alle“in erster Linie, dass ein homosexuelles Paar das Recht haben wird, Kinder zu adoptieren. Aus eingetragenen Lebenspartnern werden jetzt aber nicht automatisch Eheleute. Für die Heirat müssen die Partner gemeinsam zum Standesamt gehen. Neue Lebenspartnerschaften können künftig nicht mehr eingetragen werden. Das Gesetz tritt allerdings nicht sofort in Kraft, sondern erst drei Monate nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt.
Wie hat die Kanzlerin abgestimmt?
Angela Merkel hat am Freitagmorgen eine rote Karte in die Urne gesteckt – sie hat also mit Nein gestimmt. Die Kanzlerin begründet das so: „Für mich ist die Ehe im Grundgesetz die Ehe von Mann und Frau.“Allerdings sprach sie sich dafür aus, dass Homosexuelle Kinder adoptieren können. Mit Nein stimmten auch andere prominente Christdemokraten: Fraktionschef Volker Kauder, Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) – und auch Csu-verkehrsminister Alexander Dobrindt. Für die „Ehe für alle“entschieden sich Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Kanzleramtsminister Peter Altmaier (beide CDU). Die Ministerriege der Union ist also ebenso gespalten wie die Unionsfraktion.
Was bedeutet die Abstimmung für die große Koalition?
Der letzte reguläre Sitzungstag dieser Legislaturperiode ist so etwas wie der schwarz-rote Scheidungstag. Die große Koalition ist de facto am Ende. Ab jetzt ist Wahlkampf, auch wenn sich bis zum 24. September die Kanzlerin und ihre Bundesminister jeden Mittwoch an den Kabinettstisch setzen werden. Die SPD hat die „Ehe für alle“in den Bundestag eingebracht – und die Union überrumpelt. In der Union wird wahlweise von „Koalitionsbruch“(CSU-CHEF Horst Seehofer) oder „Vertrauensbruch“(Fraktionschef Volker Kauder) gesprochen.
Der schlechte Zustand der Koalition wird in den Reden der Sozialdemokraten deutlich. So sagt Fraktionschef Thomas Oppermann, die Neuregelung sei „vielleicht nicht gut für die Koalition, aber gut für die Menschen“. Ganz anders ist Johannes Kahrs drauf, Chef des Seeheimer Kreises. Der homosexuelle Abgeordnete attackiert die Kanzlerin mit einer Härte, die so selten im Parlament zu sehen ist: „Frau Merkel, ich kann es Ihnen nicht ersparen, es war erbärmlich, es war peinlich, seit 2005 haben Sie die Diskriminierung von Lesben und Schwulen hier unterstützt und haben nichts dafür getan, dass es zu einer Gleichstellung kommt.“Die Kanzlerin blickt geradeaus.