Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Salzen & sülzen
Jetzt haben sie mich erwischt. Und die Dame, fürchte ich, hat das auch gelesen. Denn immer, wenn sie etwas gekocht hat, stellt sie das Salz dazu. Und immer, wenn ich nach dem Salz greife, dann sagt sie: „Koste doch erst mal.“Aber ich koste nicht, ich salze. Denn die Erfahrung lehrt, dass wir immer salzen, ob vor oder nach dem Kosten, sie auch. Also kann ich es auch gleich tun. Aber das ist, so las ich dieser Tage in meiner Heimatzeitung, unhöflich.
Dabei, ich bin der höflichste Mensch von der Welt. Das ist der reine Egoismus, denn in aller Regel bekommt man für ein Lächeln eines zurück. Und drei, vier erwiesene und erhaltene Freundlichkeiten sind schon eine kleine Anzahlung für einen halbwegs gelingenden Tag. Ich empfinde es nicht als devot, einer Frau die Tür aufzuhalten, nicht einmal, wenn es sich um die Dame handelt, der ich auch zwischen Abendessen und Frühstück begegne. Und ich fühle mich wohler, wenn eine Frau rechts von mir geht.
Aber jetzt musste ich mir, ausgerechnet von meiner Heimatzeitung anhören, was für ein Stiesel ich bin. Im Theater zum Beispiel. Ich lasse wie gefordert, der Dame den Vortritt und aus dem Mantel helfe ich ihr auch, ich selbst bevorzuge Jacken. Und sonst? Sonst sollte, lese ich, meine Kleidung elegant, aber nicht schrill sein, weil, die Hauptrolle spielen die Künstler. Nun neige ich seit Jahrzehnten ohnehin nicht mehr zu schriller Kleidung, dieser Hinweis findet also meine uneingeschränkte Billigung, wenigstens, soweit es mich betrifft. Aber was ist elegant? Ein Anzug? Eine Krawatte? Ich wäre bereit, gelegentlich einer Premiere, 10 Euro zu zahlen für jede Krawatte, wenn ich einen Euro für jede Jeans bekäme. Der Ertrag läge jedenfalls deutlich über den Einkünften, die ich sonst mit einem Theaterbesuch generiere. Ich sag das so, weil das für mich Business ist. Gut, und dann geht die Vorstellung los und dann ist sie zu Ende, Und dann? Dann, lese ich, wird am Ende eines Stückes reichlich applaudiert. Hä? Und wenn mir’s nicht gefallen hat? Muss ich dann trotzdem, weil Theater für mich meist ein Geschäftstermin ist und dann besondere Regeln gelten? Immerhin, wenn ich es „grottig“fand, soll ich es sagen dürfen – aber nicht pfeifen oder grölen. Was ist grölen? „Buh!“? Ich pfeife oder buhe tatsächlich nicht, weil das bei einem, der beruflich in der Premiere sitzt, irgendwie dämlich wirkt. Aber die anderen, wieso sollen die nicht pfeifen oder buhen dürfen? Weil’s im Knigge steht?
Adolph Freiherr Knigge (1752–1796) ist das Opfer einer beinahe grotesk anmutenden Übermalung durch die Nachgeborenen, ein Missverständnis, ihm geschah gleichsam eine der gröbsten Unhöflichkeiten der Literaturgeschichte. Der Mann reagierte wohl sehr ungehalten und unhöflich, würde ihm an seinem derzeitigen Aufenthaltsort bekannt, dass er der Nachwelt als Verfasser eines Benimmbuches gälte. Denn sein berühmtestes Buch heißt „Über den Umgang mit Menschen“, es heißt nicht „Über den Umgang mit Messer und Gabel“. Knigge ist nicht der Verfasser eines normativen Regelwerkes, was er schrieb war gleichsam angewandte Menschenkenntnis, er war und ist ein Repräsentant der Aufklärung, ein Adliger in armen Verhältnissen, der bürgerliches Selbstbewusstsein vermitteln und erzeugen wollte. Dass er nun das Etikett für eine Untergattung der Ratgeberliteratur abgeben muss, ist eine Pointe ganz eigener Art, die sehr viel Sülze serviert.
Wie gesagt, ich halte mich wirklich für einen höflichen Menschen. Aber „Gesundheit!“find ich blöd. Ich sag ja auch nicht „Gute Besserung“wenn einem Menschen der Bauch hörbar grummelt. Und, Pardon, ich entschuldige mich auch nicht, wenn ich niesen muss, es sei denn, das „Hatschi!“unterbricht mich oder einen anderen beim Reden.
Und da, apropos, finden, finde ich, die gröbsten, die brutalsten Verstöße gegen das gute Benehmen statt. Wenn nämlich Leute Zeug sülzen, von dem sie unmöglich glauben können, es sei interessant für die Übrigen. Oder sie haben, dazu neigen Vorgesetzte, ein exzessives Selbstbewusstsein, das die Überzeugung fördert, es sei grundsätzlich alles für alle interessant, was man so absondert. Das ist von allen umgehenden Unhöflichkeiten die unhöflichste.
Übrigens war ich letztens bei einer Hochzeit, und der Spielmeister dekretierte, dass sieben Männer sich zu musikalischer Begleitung und unter allgemeiner Begutachtung solistisch rückwärts zu bewegen haben, Moonwalk und so.
Als ich später das Video sah, hatte ich nicht den Eindruck, unter den Top six zu sein. Ich sag das hier, um Lernfähigkeit zu demonstrieren. Denn, so wird empfohlen: „Sie erzählen eine launige Anekdote aus Ihrem Leben, bei der Sie zugleich eine charmante Schwäche zugeben“.