Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Wie ein britischer Radiosende­r Ddr-bürgern eine Stimme gab

Die Schriftste­llerin Susanne Schädlich hat den verscholle­n geglaubten Schatz anonymer Briefe an die BBC veröffentl­icht

- Von Sibylle Peine

Berlin. „Ich bin ein Schüler der 8. Klasse und im Bezirk Lichtenber­g geboren. Wir bekommen in der Schule lauter Quatsch über die Politik zu hören. Darum höre ich Ihre Sendung so gerne. Ich verurteile den Sozialismu­s in der DDR sehr. Aber leider können wir nichts machen. Mit vielen Grüßen, Ihr Eselchen.“Wer sich hinter dem „Eselchen“verbarg, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben, doch sein kleines aufrühreri­sches Schreiben hat in einem britischen Archiv überlebt. Es gehört zu Tausenden anonymen Briefen, die Ddrbürger an die BBC schrieben und die in den Jahren 1949 bis 1974 jeden Freitagabe­nd im deutschspr­achigen Programm des Radiosende­rs verlesen wurden.

Die Schriftste­llerin Susanne Schädlich hat diesen erstaunlic­hen Fund gehoben und jetzt in ihrem Buch „Briefe ohne Unterschri­ft“veröffentl­icht. Historisch sind die Dokumente deshalb, weil sie einen ganz unverstell­ten Einblick in die Gemütslage der Ddr-bürger geben, die hier offen vom Leder ziehen. Befreit von ideologisc­hen Fesseln und vom heimischen Überwachun­gsapparat reden die Menschen über alles, was sie in ihrem Alltag bedrückt: Sie klagen über die miese Versorgung­slange, verurteile­n die mangelnde Meinungsun­d Pressefrei­heit, empören sich über den Bau der Mauer und ihr Eingesperr­tsein.

„Seit dem 13. August ist alles rapide schlechter geworden“, heißt es in einem unmittelba­r nach dem Mauerbau geschriebe­nen Brief. „Wenn es vor dem schon dies und das nicht gab, so gibt es jetzt überhaupt nichts mehr: keinen Pfeffer, keine Zwiebeln, keinen Reis, von Obst und Gemüse ganz zu schweigen.“

Ein Soldat beklagt das Regiment in der NVA: „Soldaten, die gerade ein Jahr ihren Dienst versehen, aber haben schon, auf Deutsch gesagt, die Schnauze voll. Hier hört man den ganzen Tag weiter nichts als – Erhöhung der Einsatzber­eitschaft. Und das ewige Gequatsche von den kriegslüst­ernen westlichen Imperialis­ten. Ich sage Ihnen, das habe ich satt.“

Ein Jugendlich­er wiederum möchte „wie die westliche Jugend leben können“und bittet um das Abspielen eines Beatles-songs, denn: „Die moderne Musik lässt man uns nicht hören. Aber wir suchen uns unseren Weg und lassen uns von den Russen nicht kommandier­en.“

Die Briefe verlas der britische Journalist Austin Harrison, der perfekt Deutsch sprach und sich auch oft in der DDR aufhielt. Dort wurde er von der Stasi ins Visier genommen. Die detaillier­ten Stasi-protokolle halfen jetzt der Autorin, die Geschichte der „Briefe ohne Unterschri­ft“zu rekonstrui­eren. Denn natürlich war der Stasi diese Sendung von Anfang an ein Dorn im Auge und sie versuchte mit allen Mitteln, die anonymen Schreiber ausfindig zu machen.

Die BBC hatte allerdings ein ausgeklüge­ltes System zum Schutz der Briefschre­iber entwickelt: Die Briefe wurden an fingierte Adressen in West-berlin geschickt, tatsächlic­h dort in Postfächer­n gelagert und weiter nach London versandt. Mit aufwendige­n Recherchen, Speichelpr­oben etc. versuchte die Stasi der aufrühreri­schen Absender habhaft zu werden, und manchmal gelang das tatsächlic­h. So wurde der Schüler Karl-heinz Borchardt aus Greifswald geschnappt und zu einer langen Haftstrafe verurteilt, weil er den russischen Einmarsch 1968 in Prag verurteilt hatte.

Vergessene Geschichte­n des Unrechts, die Schädlich hier wieder lebendig werden lässt. Austin Harrison, die Stimme der BBC und des Westens in der DDR, war 1975 letztmals zu hören. Die Sendung wurde eingestell­t.

Warum? Offenbar war die Menge der Post nur noch schwer zu bewältigen. Aber auch die Tatsache, dass die Stasi einige der Absender verfolgt und verurteilt hatte, mochte eine Rolle gespielt haben. Die Enttäuschu­ng der Hörer war groß: „Ich habe jegliche Lust verloren, Radio zu hören.“Doch Harrison hatte eine Hoffnung: „Vielleicht wird die BBC eines Tages Auszüge aus den Briefen in Buchform veröffentl­ichen. Meines Erachtens wäre das eine gute Idee.“

Diese Idee hat Susanne Schädlich nun Jahrzehnte später eindrucksv­oll umgesetzt. (dpa)

Susanne Schädlich: Briefe ohne Unterschri­ft. Wie eine Bbcsendung die DDR herausford­erte, Knaus Verlag, München,

 Seiten, , Euro

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In dem Buch „Briefe ohne Unterschri­ft“hat Susanne Schädlich ihren erstaunlic­hen Fund an die Öffentlich­keit gebracht. Foto: Uwe Zucchi, dpa

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