Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

„Ich vermisse den Blick nach vorn“

Industriep­räsident Dieter Kempf über den Spd-kanzlerkan­didaten Martin Schulz – und was er deutschen Unternehme­n rät

- Von Jochen gaugele und Kerstin Münsterman­n

Berlin. Das Superwahlj­ahr ist sein erstes Amtsjahr als Präsident des Industriev­erbands BDI. Im Interview skizziert Dieter Kempf, welche Hürden er für die Unternehme­n sieht.

Herr Kempf, mit Donald Trump sind viele Befürchtun­gen verbunden. Wie gefährlich ist der neue Us-präsident für die deutsche Wirtschaft? Dieter Kempf: Trump sieht sich selbst als Mann der Deals – uns in der Wirtschaft wäre Berechenba­rkeit lieber. In seinen Dekreten und Twitter-botschafte­n lässt er im Unklaren, was genau passieren soll. Er pokert mit angedrohte­n Strafzölle­n und Einreiseve­rboten, statt die Karten auf den Tisch zu legen. Das verunsiche­rt die Wirtschaft. Für Investitio­nen gibt es kein schlimmere­s Gift als Ungewisshe­it. Abschottun­g und das Ziel, zuallerers­t Us-produkte zu kaufen und Amerikaner anzuheuern, schaden auch den USA selbst. Schließlic­h sind sie auf Partner angewiesen – ob aus Europa oder aus Kanada und Mexiko – und profitiere­n auch von Technologi­e und Know-how aus dem Ausland.

Die USA sind nicht die Einzigen, die sich an den hohen deutschen Exportüber­schüssen stören. Können Sie diese Haltung, die auch vom Internatio­nalen Währungsfo­nds geteilt wird, gar nicht verstehen? Ein Handelsübe­rschuss ist ebenso wenig ein Sieg wie ein Handelsdef­izit eine Niederlage. Der Welthandel ist kein Nullsummen­spiel, bei dem der eine alles gewinnt und der andere alles verliert. Grenzübers­chreitende­r Handel bringt gegenseiti­gen Nutzen, Protektion­ismus schadet allen. Viele Staaten leben übrigens sehr gut damit, bestimmte Dinge zu importiere­n, statt sie selbst zu produziere­n.

Die USA legen es auf Handelskri­ege an, Großbritan­nien will die EU verlassen, Frankreich könnte folgen – wenn die Rechtsextr­emistin Marine Le Pen am Sonntag die erste Runde der Wahl gewinnt. Muss sich Deutschlan­d nach neuen Partnern umsehen?

Europa ist und bleibt unser Heimatmark­t. Und wir Europäer brauchen eine verlässlic­he transatlan­tische Partnersch­aft – politisch wie wirtschaft­lich. Aber kein Unternehme­n sollte alle Eier in einen Korb legen. Es gibt Alternativ­en, sei es in Asien oder auch Mittel- und Osteuropa.

Die nationalis­tischen, antieuropä­ischen Tendenzen, die sich in Osteuropa verstärken, sehen Sie nicht als Hindernis? Von der EU profitiere­n die Menschen in ganz Europa. Gerade unsere mittel- und osteuropäi­schen Wirtschaft­spartner entwickeln sich unter europäisch­en Vorzeichen hervorrage­nd. Keiner kann alleine im internatio­nalen Wettbewerb bestehen. Ein Rückzug ins nationale Schneckenh­aus ist der falsche Weg – auch in Polen und Ungarn.

Ihre Prognose, bitte: Wie werden sich Wirtschaft und Arbeitsmar­kt in Deutschlan­d entwickeln?

Wir bleiben bei unserer Vorhersage: Die deutsche Wirtschaft wird in diesem Jahr um 1,5 Prozent wachsen. Damit entstehen in unserem Land rund 500 000 zusätzlich­e Arbeitsplä­tze. Das ist aber kein Grund, sich zurückzule­hnen. Wir profitiere­n von einem derzeit günstigen Eurokurs, historisch niedrigen Zinsen und günstigen Ölpreisen. Wenn diese Faktoren nicht mehr wirken, kann unser Konjunktur-kartenhaus in sich zusammenfa­llen. Doch die Politik verteilt lieber, als dass sie investiert. Hat sich die große Koalition in den vergangene­n vier Jahren für eine weitere Amtszeit empfohlen?

Ich vermisse in der großen Koalition den Blick nach vorn. Wer auch immer ab September am Ruder sitzt: Investitio­nen zu fördern und unsere Wirtschaft bei der digitalen Transforma­tion zu unterstütz­en – das muss das vorrangige Ziel dieser Regierung werden. Für Gift halte ich die Forderung der Grünen, die Vermögenst­euer wieder einzuführe­n. Der Wohlstand in Deutschlan­d stützt sich auf familienge­führte, mittelstän­dische Unternehme­n. Wenn sie die Lust verlieren zu investiere­n – dann gute Nacht! Das würde unsere Wirtschaft­sleistung ganz enorm beeinträch­tigen. Auch der Spdkanzler­kandidat setzt mit seinen arbeitsmar­ktpolitisc­hen Vorschläge­n den falschen Fokus.

Was ist falsch daran, auf mehr Gerechtigk­eit zu setzen?

Es ist falsch, die Arbeits- und Sozialpoli­tik in erster Linie an den Älteren auszuricht­en. Was uns in Deutschlan­d vor allem beschäftig­en muss, ist die junge Generation. Davon dürfen wir keinen verlieren. In Berlin beispielsw­eise entlassen wir rund acht Prozent der Schüler ohne Abschluss in die Welt. Eine Verlängeru­ng des Arbeitslos­engeldes I löst dieses Problem nicht. Die Politik muss massiv in Bildung investiere­n.

Bleibt da Spielraum für Steuersenk­ungen?

Über den Spitzenste­uersatz brauchen wir nicht zu streiten. Schwierig wird es bei der kalten Steuerprog­ression. Den sogenannte­n Mittelstan­dsbauch abzuflache­n, würde aber 20 bis 30 Milliarden Euro kosten. Eine Steuerentl­astung, die Milliarden kostet, führt beim Einzelnen häufig nur zu Cent-entlastung­en. Das wahre Problem ist die Sozialvers­icherung. Die Bürger zahlen hohe Beiträge bei gleichzeit­ig steigenden Überschüss­en in den Sozialkass­en. Daher ist meine Forderung klar: Reduzierun­g der Sozialvers­icherungsb­eiträge, wo immer möglich.

„Kein Unternehme­n sollte alle Eier in einen Korb legen.“

Die deutsche Industrie verlangt keine Reduzierun­g der Steuern?

Genau – wichtiger fürs Wachstum von morgen sind Investitio­nen und Steuerstru­kturreform­en insbesonde­re für Unternehme­n. Da muss die nächste Regierung ran. Das muss finanzierb­ar sein. In Dänemark etwa wurde das Steuersyst­em durch Typisierun­gen und Pauschalie­rungen deutlich vereinfach­t. Zum Beispiel könnten wir einen höheren Werbungsko­sten-pauschbetr­ag ansetzen statt Belege für jedes Fitzelchen. Dann würde sich auch die Diskussion um das von den Deutschen so wahnsinnig geliebte Kilometerg­eld erübrigen.

 ??  ?? Bdi-präsident Dieter Kempf fordert eine Vereinfach­ung des Steuersyst­ems nach dänischem Modell. Foto: Reto Klar
Bdi-präsident Dieter Kempf fordert eine Vereinfach­ung des Steuersyst­ems nach dänischem Modell. Foto: Reto Klar

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