Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Herzensbrecher
Was sind das für Angebote! Kiss me, I‘m from Indianapolis – küss mich, ich komme aus Indianapolis! So steht es auf einem Pappschild, das sich mir in den Weg reckt. Küss mich, ich bin phänomenal! Küss mich, dann wirst du stärker! Die Argumente sind so zahllos wie entwaffnend. Mein Versuch, einer der Aufforderungen nachzukommen, scheitert allerdings kläglich. Ich verpasse die hingehaltene Wange deutlich. Erkenntnis: Küsse nie eine Frau im Vorübergehen.
Aber ich bin ja weder beim Aprèsski noch beim Fasching. Sondern mitten im Läuferfeld des Boston-marathons, kurz vor Meile 13, kontrollierte Offensive. Und die hemmungslos kreischenden Randfiguren der Szenerie sind Schülerinnen des in der Nähe liegenden Wellesley Colleges.
Das Bild passt durchaus. Denn Boston ist der Lauf, der die Frauen in den Mittelpunkt rückt. Die knappe Hälfte der gut 30 000 Starter ist weiblichen Geschlechts, das schafft kein zweiter Marathon dieser Welt.
Dass Frauen inzwischen wie selbstverständlich auf der 42-km-distanz unterwegs sind, haben sie Kathrine Virginia Switzer zu verdanken. Die Amerikanerin, geboren in Bayern, trägt sich 1967 als 20-Jährige mit den Initialen ihrer Vornamen und dem Recht der Jugend in die Startliste des Boston-marathons ein, versteckt ihre Haare unter einer Mütze und läuft einfach mit. Illegal, denn Marathon für Frauen ist verboten. Renndirektor Jock Semple persönlich versucht, ihr die Startnummer zu entreißen und sie von der Strecke zu drängen. Switzer schafft es ins Ziel. Sie wird disqualifiziert – und setzt doch eine Lawine in Bewegung. Schon fünf Jahre später dürfen Frauen offiziell in Boston starten, seit 1984 auch beim olympischen Marathon.
50 Jahre danach ist Kathrine Switzer nun auf Einladung der Boston Athletic Association noch einmal dabei. Sie trägt wieder die berühmte Startnummer 261 von damals und kann ihren Lauf genießen. „Ich bin Boston dankbar“, sagt die 70-Jährige, als sie nach 4:45 Stunden das Ziel erreicht.
Ja, Boston ist anders: Ältester Marathon der Welt. 121 Jahre lang ohne Unterbrechung ausgetragen am Patriots Day, dem dritten Montag im April. Ein Lauf, zu dessen Geschichte auch die fürchterlichen Bombenexplosionen gehören, bei denen 2013 drei Menschen sterben und fast 300 weitere verletzt werden. Ein Lauf mit strengen Qualifikationskriterien und schon deshalb mit weniger Ausländern als alle anderen großen Marathons. Nur 260 Deutsche stehen in diesem Jahr am Start. Und: Boston ist amerikanischer als New York. Ist der Lauf in Big Apple der Superstar der Szene, dann ist Boston der Elder Statesman.
Familiärer geht es zu, das spürt man schon draußen im kleinen Startort Hopkinton, wo sie vor den Häusern stehen und den Läufern „good luck“zurufen. Viel Glück. Unterwegs, in Framingham oder Newton, wo sie an diesem drückend heißen Ostermontag Schüsseln mit Eiswürfeln bereitstellen und die Hydranten aufdrehen. Oder am legendären Heartbreak Hill, jenem 800 Meter langen, dreiprozentigen Anstieg bei Kilometer 34, der so harmlos daherkommt und doch mehr Kräfte raubt als alle versuchten Küsse bei Meile 13. Dabei verdankt ausgerechnet er seinen Namen ausnahmsweise keiner Frau.
Johnny Kelley, der unglaubliche 61 Mal den Boston-marathon läuft, hat 1936 an jener Steigung den führenden Ellison Brown eingeholt und klopft ihm, als er ihn überholt, auf die Schulter. Vielleicht eine Geste des Trostes. Doch sie stachelt Brown so an, dass er noch einmal zurückkommt, den Kontrahenten wieder überläuft und gewinnt, während Kelley noch auf den fünften Platz zurückfällt. „Brown hat ihm das Herz gebrochen“, titelt „The Boston Globe“am nächsten Tag.
Ist der Stimmungspegel der Zuschauer auf den letzten Kilometern fast ohrenbetäubend, so wird er hinter dem Zielstrich geradezu ehrfürchtig. In New York rufen sie jedem Finisher gönnerhaft zu, dass er einen „great job“gemacht hat. In Boston drückt dir der Helfer im Ziel die Flasche Wasser mit einer stillen Verbeugung in die Hand. Thank you, sagt er, danke, dass du den Boston-marathon gelaufen bist.
Vorher erlebe ich noch eine andere Überraschung. Direkt auf der Ziellinie wartet Uta Pippig. Dreimal gewann die Leipzigerin, die inzwischen in den USA lebt, das Rennen, sie wird bis heute in Amerika verehrt. Nun also steht sie in der Boylston-street und empfängt die Hobbyläufer mit Beifall und einem Lächeln. Ich laufe ins Ziel und bemerke sie einen Augenblick zu spät. Schnell ein Foto, denke ich! Oder ein Autogramm! Gleichzeitig realisiere ich, dass ich natürlich weder Handy noch Stift dabei habe. Wenigstens abklatschen hätte ich sie können. Vorbei.
Und so finde auch ich bei diesem heißen Boston-marathon 2017 wieder einen kleinen Kieselstein auf dem ewigen Lauf-weg der Erkenntnis. Eine Einsicht, die Herbert Steffny, der frühere Weltklasseläufer und Bostonmasters-siegers von 1996 so formuliert und die für das Laufen wie für das Leben gilt: Der Unbelehrbare macht immer wieder den gleichen Fehler. Der Lernende jedes Mal einen neuen.
Axel Eger ist Sportredakteur dieser Zeitung