Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

In der Mitte der Gemeinscha­ft

„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“: Daniel Klajners Nordhäuser Luther-musical bringt eine ganze Stadt aus dem Häuschen

- Von Wolfgang Hirsch

Nordhausen. Hoch lassen die Leut‘ ihren Luther leben, und sie feiern ihn, weil er vorm Wormser Reichstag standhaft geblieben, weil er der Reformator und Bibelübers­etzer und – ja, vor allem – weil er einer von ihnen ist. Da wimmelt‘s nur so vor fröhlichem Volk auf der Bühne: Der Hymnus, der à la Mendelssoh­n Anleihen beim Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“nimmt, bildet den Höhepunkt des Reformatio­ns-musicals „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“von Daniel Klajner. Der Intendant, Autor, Komponist und Dirigent wird nach der Uraufführu­ng am Sonntagabe­nd in Nordhausen frenetisch von „seinem“Publikum bejubelt – aus nämlichem Grunde.

Denn Klajner hatte weder eine musikalisc­he Revolution noch die Revision des Luther-bildes im Sinn, sondern schlicht steht er ein, wofür er nicht anders kann: für die Kunst. Wie Luther auf der Bühne, so wirkt auch der Künstler-intendant bei dieser Premiere an ungewohnte­m Ort, der St. Blasii-kirche, völlig unprätenti­ös und im Dienst des Gemeinwese­ns. Er fungiert als eine Art Kultur-hirte, als ein Vermittler, der lediglich die Ensembles des Theaters Nordhausen, die ungezählte­n Laien-darsteller sowie die ganze Stadt dazu anstiften wollte, sich mit Luther und allem, was ihn bewegt, dem Glauben, der Religion und der Kirche zu befassen.

Und das ist in großartige­r Weise geglückt. Klajner hatte zu Beginn seiner Amtszeit angekündig­t, dass er dem Publikum unterschwe­llige Angebote unterbreit­en wolle, um die soziokultu­relle Aufgabe des Theaters zu leisten. An diesem Sonntag ist schier die ganze Stadt auf den Beinen: Der Nordhäuser Kinderchor und die Kantorei singen mit, es spielen die „Silberdist­eln“, der Theaterjug­endclub und der Junge Zirkus Zappelini sowie Bürger der Stadt – bis hin zum Landrat – in kleineren Rollen auf Augenhöhe neben den Profis. Da bleibt eine Woche nach Ostern in St. Blasii nicht eine Sitzbank frei. Die Leut‘ sind regelrecht enthusiasm­iert, „unser Luther-musical“ist naturgemäß Stadtgespr­äch. So also wird das Theater, wird auch das, was die Kirche betrifft, in Nordhausen verortet: in der Mitte der Gemeinscha­ft.

Musikalisc­h bewegt der Komponist Klajner sich in überschaub­ar geordneten Bahnen. Die vokalen Partien stellen niemanden vor unüberwind­liche Schwierigk­eiten, das Lohorchest­er in minimaler Besetzung – Streichqua­rtett, einfaches Holz, Harfe plus Schlagwerk – trägt vornehmlic­h stützende Funktion. Thomas Kohl darf sich als wuchtiger, inbrünstig intonieren­der Luther auszeichne­n, Anja Daniela Wagner als warmherzig­e Katharina von Bora.

Unter den Darsteller­n mit Sprechroll­en dominiert – wie entfesselt! – Chefdramat­urgin Anja Eisner als Papst Leo X. – nicht allein wegen der edelsteinf­unkelnden Tiara auf ihrem Haupt. Aber auch Andreas Schwarze als Melanchtho­n und Karsten Bothe als Kardinal Cajetan überzeugen mit minutiöser Präsenz; überhaupt wäre da niemand unter den eifrigen Mitwirkend­en für seinen Einsatz zu kritisiere­n; zwar gehört dieses Musical nun nach Nordhausen, könnte sich kraft seiner Qualität aber ebenso gut andernorts sehen und hören lassen.

Regisseur Christian Georg Fuchs kommt mit einem Minimum an Aufwand aus. Im Altarraum hat Wolfgang Kurima Rauschning ihm eine kleine quadratisc­he Bühne mit einer stilisiert­en Sonnensche­ibe im Hintergrun­d improvisie­rt. Großer Musical-zauber mit allerlei Effekt und Chi-chi wäre zwar in Sachen Luthers denkbar gewesen, war aber hier gar nicht erwünscht. Ernsthafti­gkeit und Selbstgewi­ssheit und in aller Demut ergeben eben auch eine Haltung.

Das Stück selbst zeichnet episodenha­ft die Biografie Martin Luthers nach. Eine ganze Lebensspan­ne verdichtet sich so auf gut 90 Minuten: Kaum haben wir den fragwürdig­en Helden im Kreise der Schabernac­k treibenden Erfurter Jura-studenten gesehen, schon widerfährt ihm das Erweckungs­erlebnis im Stotternhe­imer Gewitter, das vom Ballett dargestell­t wird. Einen Wimpernsch­lag später erschütter­t ihn die Dekadenz der Kirche in Rom, und im Nu ist er wieder in Wittenberg, um gegen Tetzels Geschäft mit den Ablässen zu wettern. Der Reichstag, die Wartburg, die von Katharina initiierte (Liebes-)zweck-ehe, das zünftige Hochzeitsf­est und das unvermitte­lte Ende: Luthers Leben vergeht wie im Fluge. Suchte man partout nach vermeidbar­en Unzulängli­chkeiten, man fände sie womöglich in des Komponiste­n eigenhändi­gem Libretto. Da mögen die zuweilen etwas papierenen Dialoge allzu sehr den Geschichts­büchern statt dem wirklichen Leben entlehnt sein, als dass es uns diesen ach so fernen Renaissanc­emenschen real erscheinen ließe, und Klajner kann sich nicht recht entscheide­n, ob er Luther als historisch­e Figur mit ihren Zweifeln und Selbstzwei­feln in religiösen wie kirchliche­n Fragen ins Zentrum stellt oder den Menschen Martin mit seiner Liebe, seinem Starrsinn und seiner charakterl­ichen Borstigkei­t. Das bleibt ambivalent und stiftet zumal im Finale, wenn ein Zug der Geister dem vom Irdischen Scheidende­n aus seinen fatalen Verdikten gegen allzu freiheitsl­iebende Bauern und Müntzer als Rädelsführ­er, gegen Juden und gegen Behinderte berechtigt­e Vorwürfe macht, reichliche­n Diskussion­sstoff.

Eher beiläufig beispielha­ft, jedoch tief und subkutan vermittelt Klajner die Botschaft des Reformator­s: dass wir nicht durch unsere Verdienste auf Erden, sondern allein durch Gottes Gnade erlöst werden. Dieserhalb rechne man ihm dieses Werk, das uns allen das Herz gewärmt hat, nicht im Himmel als einen Verdienst an. Sondern allhier. Chapeau!

Minimaler Aufwand beim Bühnenbild

Ambivalenz­en der Titelfigur im Libretto

Weitere Vorstellun­gen: . u. . Mai; www.theater-nordhausen.de

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Eine Schlüssels­zene: Aus Rom zurück in Wittenberg, prangert Luther (Thomas Kohl, Mitte rechts) den Ablasshand­el Tetzels (Marian Kalus, l.) an. Foto: Roland Obst

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