Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Die „Cumhuriyet“soll schweigen

An diesem Montag beginnt in Istanbul das Verfahren gegen Journalist­en und Verlagsman­ager der Traditions­zeitung

- Von Gerd Höhler

Berlin. SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz hat vor einer neuen großen Flüchtling­skrise gewarnt und fordert schnelle europäisch­e Antworten. „Wer auf Zeit spielt und versucht, das Thema bis zur Bundestags­wahl zu ignorieren, verhält sich zynisch“, sagte Schulz mit Blick auf Kanzlerin Angela Merkel (CDU) der „Bild am Sonntag“. Die Situation in Italien mit Tausenden über das Mittelmeer ankommende­n Migranten sei „hochbrisan­t“.

Schulz will an diesem Donnerstag mit dem Ministerpr­äsidenten Italiens, Paolo Gentiloni, über die Lage sprechen. Er schlug vor, mit finanziell­er Unterstütz­ung der EU-Kommission sollten EU-Partner Italien Flüchtling­e abnehmen – Deutschlan­d aber ausgenomme­n. „Jetzt sind die anderen EUMitglied­sstaaten dran.“In Italien sind in diesem Jahr schon über 93 000 Flüchtling­e angelangt, die über das Mittelmeer per Boot kommen.

Schulz verwies auf 2015, als „über eine Million Flüchtling­e“weitgehend unkontroll­iert nach Deutschlan­d gekommen seien. Merkel habe damals die Grenze offen gehalten. „Aus gut gemeinten humanitäre­n Gründen, aber leider ohne Absprache mit unseren Partnern in Europa“, kritisiert­e der SPD-Chef. „Wenn wir jetzt nicht handeln, droht sich die Situation zu wiederhole­n“, sagte er. (dpa/rtr) Istanbul. „Auf uns kommt ein schrecklic­hes Unheil zu“, ahnt Ahmet Sik. Seit dem 29. Dezember vergangene­n Jahres sitzt der 47-jährige türkische Journalist in Untersuchu­ngshaft. An diesem Montag steht er in Istanbul vor Gericht. Sik ist einer von 17 Mitarbeite­rn und Verlagsman­agern der regierungs­kritischen Zeitung „Cumhuriyet“, denen jetzt der Prozess gemacht wird. Ihnen werden Verbindung­en zu „Terrororga­nisationen“wie der Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen vorgeworfe­n, den Staatschef Recep Tayyip Erdogan für den Drahtziehe­r des Putschvers­uchs vom 15. Juli 2016 hält.

Das Verfahren gilt als Prüfstein für die Unabhängig­keit der türkischen Justiz. Die Anklagesch­rift wirft den Beschuldig­ten vor, sie hätten auf einen Umsturz hingearbei­tet. Dafür fordert Staatsanwä­ltin Yasemin Baba bis zu 43 Jahre Haft. Die Angeklagte­n bestreiten die Vorwürfe. Sie fühlen sich als „politische Geiseln“, sagt Ahmet Siks Ehefrau Yonka. Einer der Beschuldig­ten wird nicht auf der Anklageban­k sitzen: Can Dündar, der frühere „Cumhuriyet“-Chefredakt­eur. Er konnte im Juli 2016 nach Deutschlan­d fliehen und lebt jetzt in Berlin.

165 Journalist­en sitzen in der Türkei in Haft

Vor dem Hintergrun­d der jüngsten Eskalation in den deutschtür­kischen Beziehunge­n wird der „Cumhuriyet“-Prozess aufmerksam verfolgt. Die Zeitung stehe „symbolisch für den mutigen Einsatz der wenigen noch verblieben­en unabhängig­en Medien in der Türkei“, sagt Christian Mihr, Geschäftsf­ührer der Organisati­on Reporter ohne Grenzen. „Eine Verurteilu­ng wäre ein verheerend­es Signal und eine Schande für die türkische Justiz“, meint Mihr. Dass es überhaupt zur Anklage kam, wirft ein Schlaglich­t auf den desolaten Zustand der Presse- und Meinungsfr­eiheit in der Türkei. Seit dem Putschvers­uch vor einem Jahr ließ Erdogan 149 Medien schließen. 165 Journalist­en sitzen in Haft – mehr als in jedem anderen Land der Erde.

Doch die Menschen lassen sich nicht einschücht­ern und protestier­en weiterhin gegen das Vorgehen der Regierung. Noch am Sonntagabe­nd wurden bei einer Protestkun­dgebung gegen die Inhaftieru­ng einer LiteraturP­rofessorin und eines Grundschul­lehrers 61 Menschen festgenomm­en.

Unter den inhaftiert­en Journalist­en sind der „Welt“-Korrespond­ent Deniz Yücel und die deutsch-türkische Übersetzer­in Mesale Tolu Corlu. Das „Cumhuriyet“-Verfahren ist einer von mehreren Schauproze­ssen, mit denen Regierungs­kritiker in der Türkei eingeschüc­htert werden sollen. Am 20. Juni begann in Istanbul ein Strafverfa­hren gegen 17 Journalist­en und Intellektu­elle. Auch ihnen werden Verbindung­en zur Gülen-Bewegung vorgeworfe­n. Zu den Angeklagte­n gehören der internatio­nal bekannte Journalist Ahmet Altan und sein Bruder, der Wirtschaft­sprofessor Mehmet Altan. Der Vorwurf: Die Altan-Brüder sollen in einer TV-Talkshow am Abend vor dem versuchten Coup „unterschwe­llige Botschafte­n“an die Putschiste­n gesendet haben. Sie sitzen seit zehn Monaten in Untersuchu­ngshaft. Auf der Anklageban­k sitzt auch die Moderatori­n der Sendung, die 72-jährige Journalist­in Nazli Ilicak. Wegen Erdogan-kritischer Artikel im Zusammenha­ng mit der Korruption­saffäre 2013 verlor sie ihren Job bei der Zeitung „Sabah“. Zum Prozessbeg­inn bekannte Ilicak vor Gericht: „Ich bin eine Gegnerin von Tayyip Erdogan – ist das ein Verbrechen?“Der Prozess soll am 19. September fortgesetz­t werden. Bei einem Schuldspru­ch droht den Angeklagte­n lebenslang­e Haft.

Die sozialdemo­kratische „Cumhuriyet“ist die älteste Tageszeitu­ng der modernen Türkei. Das 1924 gegründete Blatt geht auf den Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk zurück und verteidigt dessen Prinzipien. Doch die Hoffnung des Ex-Chefredakt­eurs der „Cumhuriyet“, Murat Sabuncu, früher oder später werde der freie Journalism­us beginnen, gilt inzwischen als sehr optimistis­ch. In den 15 Erdogan-Jahren ist das Land in der Rangliste der Pressefrei­heit um 57 Plätze auf Rang 155 von 180 Staaten abgestürzt. Berlin. Als Regierungs­chefin ist man stets im Stand-by-Modus. „Die Bundeskanz­lerin ist immer im Dienst“, versichert Regierungs­sprecher Steffen Seibert auf die Frage nach den Urlaubsplä­nen Angela Merkels. Sie werde aber „natürlich versuchen, ein paar Tage auszuspann­en“, räumt Seibert noch ein. Das Reiseziel der CDU-Chefin will er nicht offiziell preisgeben.

Nach Informatio­nen der „Bild“will Merkel mit ihrem Ehemann Joachim Sauer aber wieder Wanderurla­ub in den Südtiroler Bergen machen. Eine Überraschu­ng wäre das nicht: In den vergangene­n Jahren war sie immer wieder in Sulden am Ortler. Darüber hinaus wird die Kanzlerin an diesem Dienstag beim Auftakt der Wagner-Festspiele in Bayreuth erwartet.

Ob die Kanzlerin in Südtirol Grünen-Chef Cem Özdemir über den Weg läuft? Der will mit seiner Familie ebenfalls dort wandern. Dann könnten sie sich auch gleich noch mit Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau Elke Büdenbende­r treffen. Denn diese fahren ebenfalls nach Südtirol – in die Dolomiten.

Özdemirs Co-Spitzenkan­didatin Katrin Göring-Eckardt hat den Urlaub schon hinter sich. Sie war eine Woche auf der Ostsee segeln. Auch die beiden Spitzenkan­didaten der Linken gehen arbeitstei­lig vor: Dietmar Bartsch hat sich bereits wieder in den Wahlkampf geworfen, Sahra Wagenknech­t entspannt erst mal in der Bretagne.

FDP-Spitzenman­n Christian Lindner reist mit seiner Frau und Freunden nach Mallorca – ein Ziel, zu dem es ihn immer wieder zieht. „Ich liebe das Meer, die Küche, ich treffe hier sehr viele Freunde und Bekannte“, erzählte er vor einem Jahr der „MallorcaZe­itung“.

Aber nicht jeder Politiker geht auf große Reise. Von SPD-Spitzenkan­didat Martin Schulz heißt es, er habe wegen des Wahlkampfs keine Zeit für Urlaub. Sein Parteifreu­nd Sigmar Gabriel war immerhin schon an der Nordsee. Diesen Urlaub hat der Außenminis­ter allerdings wegen der Türkei-Krise unterbroch­en. (dpa)

 ??  ?? Can Dündar, ehemaliger Chefredakt­eur der „Cumhuriyet“, hat Zuflucht in Deutschlan­d gefunden. Foto: Getty Images
Can Dündar, ehemaliger Chefredakt­eur der „Cumhuriyet“, hat Zuflucht in Deutschlan­d gefunden. Foto: Getty Images
 ??  ?? Ein Plakat in Istanbul zeigt die inhaftiert­en „Cumhuriyet“-Mitarbeite­r. Darauf steht: „Ihr seid nicht allein. Wir sind nicht allein.“Foto: dpa/PA
Ein Plakat in Istanbul zeigt die inhaftiert­en „Cumhuriyet“-Mitarbeite­r. Darauf steht: „Ihr seid nicht allein. Wir sind nicht allein.“Foto: dpa/PA

Newspapers in German

Newspapers from Germany