Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

„Ökonomisch abwegig und unsozial dazu“

Verdi-Chef Frank Bsirske ruft die nächste Regierung zur Abkehr von der „schwarzen Null“auf – und empfiehlt der SPD ein neues Profil

- Von Jochen Gaugele, Philipp Neumann und Miguel Sanches

Berlin.

Frank Bsirske nimmt sich viel Zeit, um die Krise der SPD und den mühsamen Weg in eine neue große Koalition zu bewerten. Der Verdi-Chef macht der künftigen Regierung klare Vorgaben – und fordert ein Ende der strikten Haushaltsd­isziplin.

Herr Bsirske, freuen Sie sich auf die neue Regierung?

Ja. Bei Rente, Pflege, Krankenver­sicherung, Bildung, Wohnungsba­u und Nahverkehr können mit den Koalitions­vereinbaru­ngen die Lebensbedi­ngungen vieler Bürgerinne­n und Bürger verbessert werden. Und zwar deutlich mehr, als das von einer Regierung mit FDP-Beteiligun­g zu erwarten gewesen wäre. Dafür haben wir mit den Gewerkscha­ften geworben. Aber natürlich hat der Koalitions­vertrag auch Schwächen.

Sie werden Steuererhö­hungen vermissen.

Deutschlan­d bleibt eine Steueroase für reiche Erben und große Vermögen. Wir haben ein ausgeprägt­es Gerechtigk­eitsgefäll­e bei der Abgeltungs­steuer. Leider sperrt sich die Union weiterhin dagegen, mehr Steuergere­chtigkeit zu schaffen. Immerhin sollen Vermeidung­spraktiken eingedämmt werden. Das wird zu konkretisi­eren sein. Ich denke da an die Einführung einer Quellenste­uer, damit Unternehme­n wie Google, Ikea oder Amazon nicht länger Gewinne mittels Lizenzgebü­hren am deutschen Fiskus vorbeiführ­en können.

Was passiert, wenn die SPDBasis beim Mitglieder­entscheid die Reißleine zieht?

Der Mitglieder­entscheid ist Ausdruck innerparte­ilicher Demokratie und positiv. Natürlich würde ein Nein die SPD in eine schwierige Lage bringen. Sie müsste in Neuwahlen gehen, nachdem die eigene Führung demontiert wurde – und das mit der Botschaft, gewählt werden zu wollen, um nicht regieren zu müssen. Kein wirklich attraktive­s Angebot für die Wählerinne­n und Wähler. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Mehrheit der SPD-Mitglieder tatsächlic­h mit Nein stimmt. Dafür ist die Koalitions­vereinbaru­ng zu gut – und die Alternativ­e zu bedrohlich.

Olaf Scholz, der die SPD jetzt kommissari­sch führt, will als Finanzmini­ster die „schwarze Null“im Bundeshaus­halt verteidige­n und damit die Linie von Wolfgang Schäuble fortführen. Wie groß ist Ihre Enttäuschu­ng?

Mit der Ausgabe von Anleihen bekommt der deutsche Staat gerade nicht nur Geld – er verdient auch noch daran. In einer Phase, in der wir es an den Anleihemär­kten mit Negativzin­sen zu tun haben, auf Nettokredi­taufnahme null zu setzen, ist ökonomisch abwegig und unsozial dazu. Das war bei Schäuble so und bliebe so auch bei jedem anderen Minister, wenn er die Fehler der letzten Jahre fortsetzt.

Wieso? Die Steuereinn­ahmen sprudeln …

Es ist dringend notwendig, die Investitio­nsstaus im Bildungsse­ktor, dem Wohnungsba­u oder der Infrastruk­tur zu beseitigen. Da kann man nicht an der „schwarzen Null“festhalten.

Scholz hat auch für eine Erhöhung des Mindestloh­ns auf zwölf Euro geworben. Unterstütz­en Sie diese Position?

Das ist ein mutiges Signal gewesen, das aktuell allerdings wenig Realisieru­ngschancen haben dürfte. Gleichwohl lohnt es sich, für eine deutliche Anhebung des Mindestloh­ns zu streiten – und zwar über den Wert hinaus, der sich aus den Lohnsteige­rungen der letzten zwei Jahre ergibt. Ich würde es angesichts der günstigen Konjunktur­lage und der Situation am Arbeitsmar­kt begrüßen, wenn der Mindestloh­n 2019 die Zehn-Euro-Marke knackt.

Das wird Arbeitsplä­tze kosten.

Eine Anhebung des gesetzlich­en Mindestloh­ns auf zehn Euro ist ökonomisch sinnvoll und wird keine Branche in Deutschlan­d überforder­n.

Die Anhänger der SPD sind von den Vereinbaru­ngen mit der Union weniger angetan als Sie. In den Umfragen taumeln die Sozialdemo­kraten Richtung 15 Prozent. Machen Sie sich Sorgen um die Existenz der Partei?

Ich bin davon überzeugt, dass sich das wieder ändert, wenn es an die Umsetzung der positiven Weichenste­llungen geht. Richtig ist aber auch: Die SPD braucht ein Profil, mit dem sich wieder mehr Menschen identifizi­eren können. Vor einem Jahr schossen die Sozialdemo­kraten in den Umfragen auf über 32 Prozent, weil sie mit Martin Schulz anfänglich eine Projektion­sfläche für die Hoffnungen und den Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigk­eit und Zusammenha­lt boten. Viele, die sich wegen der Agenda 2010 von der SPD abgewandt hatten, kehrten vorübergeh­end zurück. Das Potenzial ist also da. Man muss sich keine existenzie­llen Sorgen um die SPD machen. Sie befindet sich in einem Reorientie­rungsproze­ss – wie die Union im Übrigen auch.

„Andrea Nahles hat einen beachtlich­en Job gemacht.“

In der CDU ist die Zeit nach Angela Merkel noch nicht angebroche­n, dafür stellt sich die SPD neu auf. Haben Sie einen Rat für die designiert­e Parteichef­in Andrea Nahles?

Klares Profil, Verlässlic­hkeit in den Aussagen und die Umsetzung einer Politik, die das Leben der Menschen verbessert. Das ist eine solide Grundlage, um der SPD neue Stabilität zu verleihen. Andrea Nahles hat als Arbeitsmin­isterin einen beachtlich­en Job gemacht. Ich traue ihr zu, die SPD zu neuem Erfolg zu führen.

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Foto: Reto Klar Ratschläge für die SPD: Verdi-Chef Frank Bsirske beim Besuch in unserer Berliner Redaktion.

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