Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Engagiert in der Rolle eines Beobachters
Kann ja sein, ich sähe es genauso – wenn ich es schon gesehen hätte: das, was diese als ein künstlerisches Meisterwerk und jene als ein köstliches Theatervergnügen zu Protokoll gaben, auf der Leserseite unserer Zeitung.
Sie meinten Figaros jüngste Hochzeit zu Mozarts Klängen am Deutschen Nationaltheater Weimar, deren Inszenierung der Kollege Opernkritiker auf dieser Seite derweil als einen langweiligen Rokoko-Comicstrip beschrieben hatte.
Dieser Verriss forderte offenkundig zum Widerspruch heraus, was ja nun nicht das schlechteste ist. Ohnehin viel zu selten sorgt Theater, für meinen Geschmack, für ein Stadtgespräch und für eine Debatte, die nach einer veröffentlichten Meinung nicht gleich endet.
Nun leitet aber das gewohnt meinungsstarke Ehepaar S. aus Weimar aus diesem konkreten Fall eine allgemeine Pathologie ab, die Streitgespräche zur
Kunst nicht gerade befördert, sondern vielmehr im Keim ersticken soll.
Theaterkritiker, so schreiben sie, litten an zweierlei: Sie seien zum einen „tief in ihrem Innersten davon überzeugt, dass sie es besser könnten, wenn man ihnen die Inszenierung überlassen hätte“.
Und sie wüssten zum anderen, „dass ihre Kritik nicht den geringsten Einfluss darauf hat, ob ein Stück zum Publikumserfolg wird oder nicht“. Das sind nun allerdings ganz grandiose Fehldiagnosen.
Gewiss, es gibt, wie überall im Leben, solche und solche. Generell aber schreiben diese Kritiker über das Theater, nicht für das Theater. Ihre Zielgruppe sind ihre Leser, nicht die Beteiligten einer Produktion. Sie halten sich nicht für die besseren Regisseure, sondern bestenfalls für genaue Beobachter mit Haltung und Empathie. Unabhängig vom allgemeinen Geschmack tragen sie zur Meinungsbildung bei, indem sie ihre Meinung begründet anbieten, und sei es als ein Korrektiv.
Und das können sie umso unabhängiger und von Zwängen befreiter tun gerade in dem Bewusstsein, dass ihr Einfluss auf den Erfolg und Misserfolg eines Stücks zumindest relativ begrenzt ist.
Meine Dienstleistung als Kritiker ist die Ansicht, nicht der Ratschlag.
Andernfalls wäre ich womöglich regresspflichtig. Denn es gibt auch den umgekehrten Fall: dass ich eine Inszenierung für besonders gelungen halte, dieser oder jener Zuschauer beziehungsweise Leser dann aber leider nicht. Für Theaterkritiken gilt, mit noch mehr Berechtigung, das Gleiche wie für Lottozahlen: Sie werden ohne Gewähr veröffentlicht.
Und dass Kritiker stets gegen das Publikum stünden, ist übrigens eine Legende: weil jeder Kritiker ein Einzelner ist und Publikum eine heterogene Veranstaltung – also nicht gleichgeschaltet.
Was die Leiden der Kritiker betrifft, ist unterdessen aber zweierlei doch richtig: Sie brauchen große Leidenschaft ebenso wie eine gewisse Leidensfähigkeit.