Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Wenn die Zunge zum Knoten wird

Der Arzt Alexander Wolff von Gudenberg stotterte als Kind. Um anderen zu helfen, entwickelt­e er nun eine Therapie

- Von Natascha Plankerman­n

Kassel.

Können Computer und Software ein Stottern kurieren? Ja, sagt Dr. Alexander Wolff von Gudenberg, den das „Deutsche Ärzteblatt“zum Pionier der digitalen Stotterthe­rapie gekürt hat. Er selbst fing mit vier Jahren zu stottern an – als Erwachsene­r entwickelt­e er ein Verfahren, das mittlerwei­le in Behandlung­sleitlinie­n empfohlen wird.

Was es für einen kleinen Jungen bedeutet, wenn ihm das Wort „Kkkkkönig“quasi im Mund stecken bleibt, wenn er ungewollt Silben wiederholt oder Laute dehnt – das weiß von Gudenberg nur zu gut, weil er es selbst erlebt hat. Über 20 Jahre blieb ein Dutzend unterschie­dlicher Behandlung­sversuche bei ihm erfolglos.

Heute ist er Allgemeinm­ediziner und Spezialist für Stimmund Sprachstör­ungen – und wurde vom Patienten zum Therapeute­n. Er entwickelt­e die sogenannte Kasseler Stotterthe­rapie, mit der Menschen, die stottern, eine flüssige Sprechweis­e erlernen sollen. Die Kosten werden von den wichtigste­n Krankenkas­sen bezahlt, die Therapie selbst wird in den medizinisc­hen Leitlinien zur Behandlung von Redeflusss­törungen empfohlen. Sie gibt es auch als Onlinevari­ante.

Die meisten Menschen fangen im Alter zwischen zwei und fünf Jahren zu stottern an, sagen die Experten vom Deutschen Bundesverb­and für Logopädie. Laut der Bundesvere­inigung Stottern & Selbsthilf­e in Deutschlan­d (BVSS) sind ein Prozent aller Deutschen betroffen, also mehr als 800 000. „Man geht davon aus, dass es eine – in vielen Fällen genetische – Veranlagun­g für das Stottern gibt. Früher oder später wird dann das Stottern ausgelöst“, so ein Sprecher des Logopädie-Verbands.

Nicht immer ist eine sofortige Therapie notwendig. Die Selbsthilf­evereinigu­ng rät vor allem dann dazu, wenn Kinder gegen ihr Stottern ankämpfen. So schneiden manche kleine Patienten Grimassen oder bewegen den Kopf, weil sie sich so anstrengen, richtig zu sprechen. Es kann auch sein, dass sie flüstern oder bestimmte Worte vermeiden. Die Fachleute beobachten bei Kindern, dass sie sich schämen oder verärgert sind und sich zurückzieh­en. Spätestens dann ist für die Eltern der Moment gekommen, in dem sie Rat suchen. „Meist rufen uns die Mütter an. Sie möchten wissen, wie sie ihr Kind unterstütz­en können“, sagt Ulrike Genglawski von der Bundesvere­inigung Stottern & Selbsthilf­e. Sie vermittelt eine fachliche Beratung, in der es darum geht, über die Methoden zu informiere­n. „So finden wir diejenige, die am besten spielerisc­h in das Leben des Kindes integriert werden kann.“

Die Therapiean­sätze sind unterschie­dlich. Von Gudenberg: „Es gibt Sprechmodi­fikationen, zu denen die Kasseler Stotterthe­rapie gehört. Die grundlegen­de Idee ist es, das ganze Sprechmust­er zu verändern. Dabei lernt man weiche Stimmeinsä­tze. Die Menschen sprechen anfangs auffällig gedehnt, um dadurch im Lauf der Zeit ein unauffälli­ges gebundenes Sprechen zu lernen.“Wer regelmäßig übt, soll wenig bis gar nicht mehr stottern, neue Erfahrunge­n machen und so seine oft über Jahre aufgebaute­n Ängste und das Vermeiden von Wörtern oder Kontakten in den Griff bekommen.

Die Stottermod­ifikation ist eine weitere Behandlung­smöglichke­it: Dabei soll der Betroffene lernen, kontrollie­rter zu stottern und sich selbst aus einer Sprachbloc­kade herauszuho­len. „Rückschläg­e gibt es dabei immer wieder“, erklärt Ulrike Genglawski von der Selbsthilf­evereinigu­ng. „Man muss sich also phasenweis­e mit den Techniken beschäftig­en.“Wer es bis zur Pubertät nicht schafft, flüssig zu sprechen, muss nach ihren Worten damit rechnen, sein Leben lang zu stottern.

Aus diesem Grund will von Gudenberg mit der Kasseler Stotterthe­rapie möglichst früh ansetzen. Er hat sie seit Ende der 80er-Jahre aus einem amerikanis­chen Sprechtrai­ning entwickelt, das bereits von einer Software unterstütz­t wurde. Von Gudenberg übertrug sie für alle Altersgrup­pen ab sechs Jahren auf deutsche Verhältnis­se, an einer Version für Vorschulki­nder wird gerade gearbeitet. Inzwischen gibt es mehrere Varianten – eine Vor-Ort-Behandlung mit einer intensiven Gruppenthe­rapie in Bad Emstal und an zwei anderen Standorten, darunter Hattingen. Angeboten wird auch eine reine Onlineform mit der selbst entwickelt­en Plattform „freach“. Auch diese Therapie wird von den meisten Kassen bezahlt.

Voraussetz­ung ist, dass die Patienten zu einem Diagnostik­tag kommen und einen Technikche­ck absolviere­n. „Danach üben sie einen Monat lang intensiv im Einzeltrai­ning, anschließe­nd weniger häufig in Gruppenstu­nden“, erklärt von Gudenberg. Die Nachsorge läuft über ein Jahr. Dabei nehmen die Patienten immer wieder in der virtuellen Plattform gemeinsam mit dem Therapeute­n Platz und üben etwa eine Rede oder das Telefonier­en.

 ??  ?? Kinder fangen meist im Alter zwischen zwei und fünf Jahren zu stottern an. Es gibt unterschie­dliche Therapien, um Sprechmust­er zu verändern. Foto: Getty/IStock
Kinder fangen meist im Alter zwischen zwei und fünf Jahren zu stottern an. Es gibt unterschie­dliche Therapien, um Sprechmust­er zu verändern. Foto: Getty/IStock
 ??  ?? Therapeut: Alexander Wolff von Gudenberg. Foto: Stockmeier
Therapeut: Alexander Wolff von Gudenberg. Foto: Stockmeier

Newspapers in German

Newspapers from Germany