Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Wenn die Zunge zum Knoten wird
Der Arzt Alexander Wolff von Gudenberg stotterte als Kind. Um anderen zu helfen, entwickelte er nun eine Therapie
Kassel.
Können Computer und Software ein Stottern kurieren? Ja, sagt Dr. Alexander Wolff von Gudenberg, den das „Deutsche Ärzteblatt“zum Pionier der digitalen Stottertherapie gekürt hat. Er selbst fing mit vier Jahren zu stottern an – als Erwachsener entwickelte er ein Verfahren, das mittlerweile in Behandlungsleitlinien empfohlen wird.
Was es für einen kleinen Jungen bedeutet, wenn ihm das Wort „Kkkkkönig“quasi im Mund stecken bleibt, wenn er ungewollt Silben wiederholt oder Laute dehnt – das weiß von Gudenberg nur zu gut, weil er es selbst erlebt hat. Über 20 Jahre blieb ein Dutzend unterschiedlicher Behandlungsversuche bei ihm erfolglos.
Heute ist er Allgemeinmediziner und Spezialist für Stimmund Sprachstörungen – und wurde vom Patienten zum Therapeuten. Er entwickelte die sogenannte Kasseler Stottertherapie, mit der Menschen, die stottern, eine flüssige Sprechweise erlernen sollen. Die Kosten werden von den wichtigsten Krankenkassen bezahlt, die Therapie selbst wird in den medizinischen Leitlinien zur Behandlung von Redeflussstörungen empfohlen. Sie gibt es auch als Onlinevariante.
Die meisten Menschen fangen im Alter zwischen zwei und fünf Jahren zu stottern an, sagen die Experten vom Deutschen Bundesverband für Logopädie. Laut der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe in Deutschland (BVSS) sind ein Prozent aller Deutschen betroffen, also mehr als 800 000. „Man geht davon aus, dass es eine – in vielen Fällen genetische – Veranlagung für das Stottern gibt. Früher oder später wird dann das Stottern ausgelöst“, so ein Sprecher des Logopädie-Verbands.
Nicht immer ist eine sofortige Therapie notwendig. Die Selbsthilfevereinigung rät vor allem dann dazu, wenn Kinder gegen ihr Stottern ankämpfen. So schneiden manche kleine Patienten Grimassen oder bewegen den Kopf, weil sie sich so anstrengen, richtig zu sprechen. Es kann auch sein, dass sie flüstern oder bestimmte Worte vermeiden. Die Fachleute beobachten bei Kindern, dass sie sich schämen oder verärgert sind und sich zurückziehen. Spätestens dann ist für die Eltern der Moment gekommen, in dem sie Rat suchen. „Meist rufen uns die Mütter an. Sie möchten wissen, wie sie ihr Kind unterstützen können“, sagt Ulrike Genglawski von der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe. Sie vermittelt eine fachliche Beratung, in der es darum geht, über die Methoden zu informieren. „So finden wir diejenige, die am besten spielerisch in das Leben des Kindes integriert werden kann.“
Die Therapieansätze sind unterschiedlich. Von Gudenberg: „Es gibt Sprechmodifikationen, zu denen die Kasseler Stottertherapie gehört. Die grundlegende Idee ist es, das ganze Sprechmuster zu verändern. Dabei lernt man weiche Stimmeinsätze. Die Menschen sprechen anfangs auffällig gedehnt, um dadurch im Lauf der Zeit ein unauffälliges gebundenes Sprechen zu lernen.“Wer regelmäßig übt, soll wenig bis gar nicht mehr stottern, neue Erfahrungen machen und so seine oft über Jahre aufgebauten Ängste und das Vermeiden von Wörtern oder Kontakten in den Griff bekommen.
Die Stottermodifikation ist eine weitere Behandlungsmöglichkeit: Dabei soll der Betroffene lernen, kontrollierter zu stottern und sich selbst aus einer Sprachblockade herauszuholen. „Rückschläge gibt es dabei immer wieder“, erklärt Ulrike Genglawski von der Selbsthilfevereinigung. „Man muss sich also phasenweise mit den Techniken beschäftigen.“Wer es bis zur Pubertät nicht schafft, flüssig zu sprechen, muss nach ihren Worten damit rechnen, sein Leben lang zu stottern.
Aus diesem Grund will von Gudenberg mit der Kasseler Stottertherapie möglichst früh ansetzen. Er hat sie seit Ende der 80er-Jahre aus einem amerikanischen Sprechtraining entwickelt, das bereits von einer Software unterstützt wurde. Von Gudenberg übertrug sie für alle Altersgruppen ab sechs Jahren auf deutsche Verhältnisse, an einer Version für Vorschulkinder wird gerade gearbeitet. Inzwischen gibt es mehrere Varianten – eine Vor-Ort-Behandlung mit einer intensiven Gruppentherapie in Bad Emstal und an zwei anderen Standorten, darunter Hattingen. Angeboten wird auch eine reine Onlineform mit der selbst entwickelten Plattform „freach“. Auch diese Therapie wird von den meisten Kassen bezahlt.
Voraussetzung ist, dass die Patienten zu einem Diagnostiktag kommen und einen Technikcheck absolvieren. „Danach üben sie einen Monat lang intensiv im Einzeltraining, anschließend weniger häufig in Gruppenstunden“, erklärt von Gudenberg. Die Nachsorge läuft über ein Jahr. Dabei nehmen die Patienten immer wieder in der virtuellen Plattform gemeinsam mit dem Therapeuten Platz und üben etwa eine Rede oder das Telefonieren.