Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Widerstand in Bildern
Weil sie gegen Hitler protestierten, wurden fünf Erfurter Handelsschüler im Dritten Reich von den Nazis verfolgt. Ihre Geschichte erzählt jetzt eine Graphic Novel
Kann man eine Geschichte über Widerstand und Verfolgung in einer Graphic Novel erzählen? Ja, man kann. Eindrucksvolle Belege dafür sind etwa der Holocaust-Comic „Maus“, in dem der polnisch-amerikanische Sohn von Holocaust-Überlebenden Art Spiegelman Juden als Mäuse, Deutsche als Katzen und Polen als Schweine darstellte und so den Rassenwahn im Dritten Reich umschrieb. Und auch die Erfurter Gedenkstätte Andreasstraße zeigt mit ihrem Comic-Fries an der Außenfassade des Kubus, wie gut das populäre Medium und die Geschichte miteinander können. Autor der nach Originalfotos aus der Zeit der Wende entstandenen Wandcollage ist Simon Schwartz, dessen Familie selbst Erfurter Wurzeln hat und hier zu DDRZeiten einen Ausreiseantrag stellte.
Mit der Graphic Novel „Nieder mit Hitler oder Warum Karl kein Radfahrer sein wollte“setzt der Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte, Jochen Voit, nun erneut auf diese Art der bildbasierten Erzählweise. Gemeinsam mit dem aus dem Iran stammenden Zeichner Hamed Eshrat greift er die Geschichte einer Erfurter Widerstandsgruppe aus der Zeit des Dritten Reiches auf. Die Erfurter Handelsschüler Joachim Bock, Joachim Nerke, Karl Metzner, Helmut Emmerich und Gerd Bergmann waren zwischen 14 und 16 Jahre alt, als sie sich 1943 mit den Nazis anlegten. Während der sich abzeichnenden Niederlage in Stalingrad verteilten sie Flugblätter und schrieben die Losung „Nieder mit Hitler“an eine Schutzhütte im Erfurter Steigerwald. Dem Verrat durch Mitschüler folgten die Verhaftung durch die Gestapo und die Inhaftierung in der Andreasstraße.
Für Jochen Voit, der seit 2011 die Umgestaltung des Stasi-Untersuchungsgefängnisses zur Bildungsstätte über Diktatur und Widerstand in der DDR verantwortet, ist der Comic „Nieder mit Hitler“ein weiterer Mosaikstein im Bemühen, auch die NS-Geschichte des Hauses in der Andreasstraße in den Blick zu nehmen. Zum Widerstand der Erfurter erschienen zuvor bereits ein Film und ein Sachbuch. Im Keller der Gedenkstätte informiert seit einigen Wochen ein kleiner Ausstellungsbereich über vor 1945 Inhaftierte. Dass er nun einmal mehr auf das Format der Graphic Novel zurückgreift, habe auch mit seiner eigenen Vergangenheit zu tun, sagt Voit. Schon als Kind habe er sein Taschengeld für Comics ausgegeben. Als Ausstellungsmacher schätze er das populäre Format als Mittel für eine leichter zugängliche Vermittlung von Geschichte, wohl wissend, dass diese Herangehensweise nicht nur Fürsprecher findet. Viel Diskussionsstoff bildet auch der Comicraum im Ausstellungsteil der Gedenkstätte, in dem Comic-Strips verschiedene Lebenswege zwischen Individualität und Anpassung illustrieren.
„Der Reiz der gezeichneten Geschichte besteht in den erzählerischen Möglichkeiten. Dadurch, dass wir die Vergangenheit zeichnen, machen wir uns als Autoren ehrlich. Wir geben nicht vor, rein dokumentarisch zu arbeiten, sondern zeigen, dass wir interpretieren. Ich verstehe Comics und Graphic Novels als ein widerspenstiges Medium, dem die Individualität schon durch seine Machart eingeschrieben ist“, sagt Voit. Kennengelernt hatten sich er und Zeichner Hamed Eshrat 2016 bei einer Comic-Messe. Der Deutsch-Iraner sei sofort an der Idee interessiert gewesen, seit dem habe man intensiv an der Umsetzung gearbeitet.
Beteiligt war daran auch der letzte Überlebende der Widerstandsgruppe, Karl Metzner. Am 26. August ist er mit 91 Jahren verstorben. Es habe einiger Überredungskunst bedurft, ihm den Comic schmackhaft zu machen, räumt Jochen Voit ein. Letztlich habe er dem Projekt seinen Segen gegeben, auch weil ihm die Pfarrerin seiner Gemeinde erklärt habe: „Karl, so erzählen die jungen Leute heute Geschichte.“
Jochen Voit: „Ohne Karl Metzners Hilfe hätten wir den Comic so nicht machen können. Er steuerte Originaldokumente bei und erlaubte uns, aus Briefen zu zitieren, die er aus dem Gefängnis an seine Mutter schrieb. Und er beantwortete geduldig unsere Fragen. Viele seiner Aussagen flossen 1 : 1 in die Geschichte ein.“
Nach seiner Haft musste Karl Metzner zur Wehrmacht. In der Kriegsgefangenschaft fand er zum christlichen Glauben. Als Pfarrer geriet er in der DDR wieder in Konflikt mit den Herrschenden und wurde von der Stasi drangsaliert. Es ist vor allem seine Person, um die die in schlichten Sepia- und Grautönen gehaltene ComicGeschichte kreist. Gefragt, was ihn an dem Hochbetagten so fasziniert habe, sagt Jochen Voit: „Seine Risikobereitschaft und sein aufrechter Gang in zwei unterschiedlichen deutschen Diktaturen. Und seine Bescheidenheit.“