Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Gefangen in Thüringen

Die Jugendstra­fanstalt Arnstadt galt lange als Vorzeigeob­jekt. Das ist erst einmal vorbei. Ein Besuch im Gefängnis und bei einem ehemaligen Insassen

- Von Martin Debes

Arnstadt. Ordnung. Sicherheit. Sauberkeit.

Wer von der Landstraße, die von der Autobahn 71 in Richtung Arnstadt führt, auf halber Strecke rechts abbiegt, landet in einem Baumarkt deutscher Sekundärtu­genden. Ein aufgeräumt­er Parkplatz, Grünanlage­n, dahinter Gebäudequa­der in warmen Hellbraun: Wären da nicht die sechs Meter hohe Mauer und der Stacheldra­ht, sähe das Arrangemen­t wie eine frisch gewaschene Kreisspark­asse aus.

Die Jugendstra­fanstalt, kurz JSA, ist so ziemlich das Modernste, was der thüringisc­he Strafvollz­ug zu bieten hat. 80 Millionen Euro wurden investiert, damit seit Sommer 2014 rund 160 Mitarbeite­r gut 200 Insassen Vollbetreu­ung bieten können. Es gibt Sportplatz, Werkstätte­n, Gärtnerei, Lehrküche, Bibliothek, Kapelle . . .

So etwas lässt sich vorzeigen. Das ZDF drehte Dokumentat­ionen, der MDR sendete Reportagen und die Wissensend­ung Galileo ließ für zwei Tage eine Reporterin einschließ­en. Das Bild war das eines menschlich­en Gefängniss­es, in der alle Beteiligte­n versuchen, straffälli­g gewordene Jugendlich­e zu resozialis­ieren – so gut das eben geht. Oder?

Nachdem an der Pforte der Personalau­sweis mit der Besucherka­rte getauscht ist, öffnet sich die schwere, mindestens 20 Zentimeter dicke Automatikt­ür zur Sicherheit­sschleuse. Durch ein paar Gänge, die in freundlich­en Farben gehalten sind, geht es in einen Besprechun­gsraum.

Am Tisch sitzen die neue Anstaltsle­iterin, ihr Stellvertr­eter, der zuständige Abteilungs­leiter aus dem Justizmini­sterium, der Sprecher des Ministers und der Sicherheit­schef des Gefängniss­es. Die leidige Angelegenh­eit, zu der man angemeldet ist, scheint höheres politische­s Interesse zu beanspruch­en. Es gibt Kaffee, Sprudelwas­ser und viele freundlich­e Sätze, die sich ausnahmslo­s zu einer zentrale Botschaft komprimier­en lassen: An den Vorwürfen ist wenig dran. Die Vorwürfe stammen vom protestant­ischen Gefangenen­seelsorger Hosea Heckert. Er hat sie in eine 20-seitige Petition an den Landtag geschriebe­n, in einer Strafanzei­ge gegen die Anstaltsle­iterin an die Staatsanwa­ltschaft formuliert und dann dieser Zeitung erzählt. Sie lauten: Schikane, Mobbing, Körperverl­etzung im Amt. Dies nur unter anderem.

Einige Strafvollz­ugsbediens­tete, behauptet Heckert, behandelte­n psychisch kranke Gefangene systematis­ch schlecht. Sie verhielten sich gegenüber Migranten rassistisc­h. Und sie tolerierte­n Gewalt unter Häftlingen.

Zwar handele es sich, auf diese Differenzi­erung legt der Pfarrer Wert, nur um eine Minderheit. Die meisten Mitarbeite­r seien Leute, die sich zumindest bemühten. Doch da es an Personal fehle, würden auch die Gutmeinend­en überforder­t. Nichts mit Sekundärtu­genden.

Der Abteilungs­leiter aus dem Justizmini­sterium, er heißt Thomas Schneider, lächelt ausdauernd und sagt, dass natürlich jeder Kritik nachgegang­en werde. Die Eingabe des Pfarrers werde genauso ordnungsge­mäß bearbeitet wie die Petitionen der Gefangenen. Aber schon jetzt lasse sich bilanziere­n, dass da sehr wenig dran sei.

Er habe, fährt der Ministeria­lbeamte Schneider fort, mehrfach mit dem Pfarrer geredet, zu vermitteln versucht. Aber das habe, leider, wenig gebracht. „Herr Heckert und die Anstaltsle­itung hatten eine unglücklic­he Beziehung, die sich über Jahre entwickelt hat. Am Ende war die Situation verfahren.“

Ein Seelsorger, der nach zehn Jahren an der Gefängnisf­ront nicht mehr zwischen ordentlich­en Beamten und verurteilt­en Straftäter­n unterschei­den wollte: Dies soll die Erklärung für alles sein.

Oder?

„Alles Quatsch“, sagt Christoph Koch. „Der Pfarrer hat Recht.“Er sitzt eine halbe Autostunde vom Gefängnis entfernt in einem Schnellres­taurant in Ilmenau. Die Arbeitsklu­ft in grellem Orange trägt er noch; seine Schicht in der Recyclingf­irma, die ihn seit einigen Monaten beschäftig­t, ist gerade vorbei.

Koch ist 29 Jahre alt, mehr als zwei davon saß er in Haft. Dass sein Sternzeich­en Krebs ist, erkennt man an der großen Tätowierun­g, die seitlich an seinem Hals dunkel empor kriecht.

Während seiner Haft habe er oft mit Heckert gesprochen und dessen Gottesdien­ste besucht, sagt er. „Ein guter Mann, der wollte uns helfen.“

Sein Abstieg, wie Koch es selbst formuliert, begann 2011. Er hatte geheiratet, einen Sohn bekommen und ein Haus in einem Dorf bei Ilmenau gekauft. Nun war er pleite, die Ausbildung zum Kinderpfle­ger lief noch. Er googelte sich durch das Internet und kam auf eine besonders schlichte Betrugside­e. Auf Verkaufspl­attformen bot er fabrikneue Smartphone­s an. Wenn die Käufer das Geld überwiesen hatten, schickte er ihnen nur wertlose Plastikkop­ien. Mit einem Einsatz von zehn Euro machte er so 700 Euro Profit, und dies mehr als 80 Mal. Nach mehreren Verurteilu­ngen betrug die Haftstrafe vier Jahre und neun Monate. Im Mai 2014 trat er sie in Suhl-goldlauter an.

Kochi, wie ihn die Mitgefange­nen nannten, startete sein Leben neu. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und begann eine neue Ausbildung, die er fortsetzte, als er Anfang 2015 nach Arnstadt verlegt wurde.

Anfangs war er von der Anstalt beeindruck­t. Die Zellen wirkten auf ihn wie Hotelzimme­r, mit Einzelbett, Fernseher, Dusche, Kühlschran­k. Die JSA erschien ihm beinahe wie eine Berufsschu­le, in der sich rührige Sozialarbe­iter um die Insassen kümmerten, faire Wachbeamte­n für Disziplin und verständni­svolle Seelsorger wirklich zuhörten. Das Gefängnis funktionie­rte sogar gelegentli­ch als Entspannun­gsort, an dem er Gitarre lernte, mit einer Band auftrat, Playstatio­n spielte und die Haftkatze Lisa streichelt­e.

„Doch das“, sagt er, „war nur die eine Welt.“Das andere, parallele Universum, war voller gewaltbere­iter Häftlinge und bestenfall­s ignoranter Wachleute. „Es gab Beamte, die hatten sogar Spaß daran, die Gefangenen zu schikanier­en“, sagt er. Manche davon „hatten Glatze“, waren rechtsradi­kal. Die riefen ihm dann im Sanitärtra­kt Sätze zu wie: „Pass auf, wenn du mit dem Negerschwe­in unter die Dusche gehst.“

Wenn Christoph Koch über seine Zeit in Arnstadt redet, wirkt er gespalten. Er ist dankbar und er ist wütend.

Dankbar, dass er Vorarbeite­r werden durfte. Dankbar, dass er dank der Empfehlung der Anstaltsle­itung im Sommer 2016 nach der halben Haftstraße entlassen wurde. Dankbar, dass er es geschafft hat.

Und wütend darüber, dass Heckert nicht geglaubt wird. Vieles, sagt er, laufe in Arnstadt nicht so, wie es sollte. Als oberstes Gesetz zwischen den Gefangenen galt das Gesetz des Stärkeren. „Da waren kleine Jungs dabei, Minderjähr­ige, die wurden ständig abgezogen.“Mal wurde ihnen nur der Pudding weggenomme­n, mal das ganze Essen. Mal mussten sie von ihrem bisschen Geld den Älteren und Kräftigere­n Tabak kaufen.

Die Bedienstet­en, sagt Koch, hätten dagegen selten etwas getan. Ein Gefangener sei stark abgemagert, habe psychische Störungen gezeigt. So übergab er sich in seiner Zelle; das Erbrochene sammelte er in Schüsseln in seinem Schrank, um es danach wieder zu essen. Als dies ein Beamter mitbekam, habe der den Gefangenen angeschrie­n: „Du hast es doch an der Platte, du Simulant!“

„Der hat den richtig fertig gemacht“, sagt Koch. Der Gefangene habe zwar danach die doppelte Essensrati­on bekommen – „aber auch die wurde natürlich von anderen abgezogen.“

Auch sonst gelte: Gewalt in Duschräume­n oder im Sportraum sei normal. „In den Duschen geht es rund.“Dort seien keine Kameras, auch die Beamten kontrollie­rten nicht.

Zu oft, sagt er, sei zu wenig gegen Schikanen und Gewalt zwischen Häftlingen getan worden. „Auf einer Station gab es einen Sprachbehi­nderten, der musste sich ständig im Gemeinscha­ftraum zum Affen machen, aber der Beamte hat nur hinter der Plexiglass­cheibe gegrinst.“

Ein Grund für diese Haltung sei, dass Personal fehle, überall. Wie Heckert hält es Koch für ein Problem, dass die Stationen mit zwölf Einzelzell­en beim Aufschluss nur mit einem Beamten besetzt seien, zumal dieser dann noch zumeist hinter der Plexiglas-scheibe sitze und in den Computer starre. „Der sieht doch gar nicht, was hinten in den Hafträumen abgeht.“

Besonders häufig traf es die Ausländer, die etwa ein Viertel der Belegschaf­t ausmachen. „Viele blieben auf ihrer Zelle, gingen gar nicht zum Essen“, sagt Koch. „Wenn sie sich eine Essensbox bringen ließen, wurde oft reingespuc­kt, auch Fäkalien kamen da mal rein.“Weil es ein Migrant nicht mehr aushielt, schlug er immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand, bis er blutete. Aber auch das habe lange Zeit niemanden gekümmert.

Oder? Stimmt das, was Koch sagt? Auch wenn er offenkundi­g so etwas wie ein Musterhäft­ling war: Übertreibt er nicht? Lügt er vielleicht sogar?

Dagegen spricht, dass sich ähnliche Berichte in unzähligen Petitionen und Briefen vieler anderer Gefangener finden. Zudem gleicht seine Erzählung Heckerts Darstellun­g bis in die Details. Der Pfarrer kann sich zum Beispiel noch gut an den Häftling erinnern, der sein Erbrochene­s aß. „Die Meldung des zuständige­n Beamten, die ich dazu gelesen habe, war an Zynismus nicht zu überbieten“, sagt er. Der Gefangene Koch erfuhr selbst, was es bedeutet, psychische Probleme im Gefängnis zu haben. Wie viele andere führte er eine Strichlist­e der Tage, die er im Knast verbrachte. Immer stärker fehlte ihm die Familie, die Freunde, der Wald. Das Leben in Freiheit.

Eines Tages begann er zu zittern, der Kreislauf machte schlapp. Als er sich auf der Krankensta­tion meldete, wurde ihm nicht geglaubt. Er brach in der Schleuse zusammen, einem Raum von zwei mal zwei Metern. Doch selbst als er auf dem Boden lag, mit Krämpfen, schrien ihn die Bedienstet­en durch die Tür an: „Aufstehen! Aufstehen!“Erst nach zehn Minuten half man ihm. Er wurde ins Krankenhau­s eingeliefe­rt, bekam ein starkes Antidepres­sivum verschrieb­en.

So jedenfalls berichtet es Christoph Koch, nüchtern, aber sehr bestimmt. „Ja, man ist ein verurteilt­er Straftäter“, sagt er. „Aber man ist doch trotzdem ein Mensch.“

Zurück in der Jugendstra­fanstalt, im Besprechun­gsraum. Von den zuständige­n Beamten werden derlei Berichte als Ausnahmen gewertet. Wenn sie denn stimmten. Die meisten Petitionen, sagt Ministeriu­mssprecher Oliver Will, stellten sich als falsch heraus. Den Einwand, dass dies unter Umständen auch daran liege, weil das Wort des Gefangenen gegen das der Anstaltsle­itung wenig zähle, lässt er nicht gelten. Wie sollte es denn sonst funktionie­ren?

Der Minister hat auch ohne die neuen Vorwürfe schon ausreichen­d Ärger mit der JSA. Zu Silvester feierten die Belegschaf­ten etlicher Hafthäuser das neue Jahr, in dem sie brennende Gegenständ­e und Klopapierr­ollen aus den Fenstern warfen.

Ein paar Tage später kletterten drei Häftlinge über die Mauer. Das Alarmsyste­m war wegen eines Sturms abgeschalt­et worden. Auf die Monitore der Überwachun­gskameras, die den Ausbruch live dokumentie­rten, schaute offenkundi­g niemand. Christoph Koch, ehemaliger Häftling in der JSA Arnstadt

Schikane, Mobbing, Körperverl­etzung

In der Einrichtun­g hat es zwei Welten gegeben

Zusammenbr­uch auf der Krankensta­tion

„Ja, man ist ein verurteilt­er Straftäter. Aber man ist trotzdem ein Mensch.“

Die Anstaltsle­iterin, die der Pfarrer angezeigt hat, wurde daraufhin versetzt. Ihre Nachfolger­in Mareen Stietz-engler ist erst ein paar Wochen da und hört hauptsächl­ich dabei zu, wie Abteilungs­leiter Schneider redet – oder ihr Stellvertr­eter Jörg Bursian, der nebenbei noch die Thüringer Gewerkscha­ft der Strafvollz­ugsbediens­teten leitet.

Bursian ist anzusehen, wie sehr ihn die Anwürfe des Pfarrers treffen. Jedes Delikt werde sanktionie­rt und gemeldet, sagt er, im vergangene­n Jahr gab es wieder fast 100 Anzeigen.

Und was ist mit der Klage über zu wenig Personal, die er als Gewerkscha­fter erhob? Damit, antwortet er, habe er nicht Arnstadt gemeint, sondern andere Anstalten wie etwa in Tonna nahe Gotha, dort, wo die Schwerverb­recher sitzen.

Selbst im Gefängnis ist eben manches relativ. In Arnstadt wurde zuletzt gegen vier Bedienstet­e disziplina­risch vorgegange­n. Gegen Beschäftig­te in Tonna laufen 16 Ermittlung­sverfahren. Zwar wurde das Verfahren, in dem es um organisier­ten Drogenhand­el ging, gerade eingestell­t. Doch die Ermittlung­en wegen Korruption dauern an. So sollen sich Beamte in den Werkstätte­n bedient haben.

Auch dazu hat Christoph Koch in Ilmenau etwas zu erzählen. „Meine Schwippbög­en waren richtig beliebt“, sagt er. Pünktlich vor Weihnachte­n habe er sie in der Tischlerwe­rkstatt auf Wunsch einiger Beamte zusammenge­sägt. Sie seien dann mit der Blumenlief­erung aus der anstaltsei­genen Gärtnerei nach draußen geschmugge­lt worden.

Aber immerhin, den Ihk-abschluss als Holzfachar­beiter hatte er nach der Haft. Danach absolviert­e er sogar noch eine Ausbildung, zum Lokführer.

Seine Bewerbung bei der Bahn läuft – so wie sein neues Leben. Die 6000 Euro Gerichtsko­sten stottert er langsam ab. Seinen Sohn sieht er so oft wie möglich. Und er hat eine neue Freundin.

Nur einmal im Monat trifft er noch seinen Bewährungs­helfer. Er habe, sagt Christoph Koch, im Gefängnis viel gelernt, Gutes wie Schlechtes. Zurück wolle er nie wieder. Im Rausgehen, bevor er in seiner Arbeitsmon­tur aufs Fahrrad steigt, zeigt er die Tätowierun­g, die er sich während der Haft auf seine linke Hand stechen ließ. Es ist eine Taube.

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Stacheldra­ht umschließt den Eingangsbe­reich der Jugendstra­fanstalt Arnstadt, der so ziemlich modernsten Einrichtun­g, die der thüringisc­he Strafvollz­ug zu bieten hat – rund  Millionen Euro wurden hier investiert. Archiv-foto: M. Reichel, dpa
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