Thüringer Allgemeine (Sondershausen)
Gefangen in Thüringen
Die Jugendstrafanstalt Arnstadt galt lange als Vorzeigeobjekt. Das ist erst einmal vorbei. Ein Besuch im Gefängnis und bei einem ehemaligen Insassen
Arnstadt. Ordnung. Sicherheit. Sauberkeit.
Wer von der Landstraße, die von der Autobahn 71 in Richtung Arnstadt führt, auf halber Strecke rechts abbiegt, landet in einem Baumarkt deutscher Sekundärtugenden. Ein aufgeräumter Parkplatz, Grünanlagen, dahinter Gebäudequader in warmen Hellbraun: Wären da nicht die sechs Meter hohe Mauer und der Stacheldraht, sähe das Arrangement wie eine frisch gewaschene Kreissparkasse aus.
Die Jugendstrafanstalt, kurz JSA, ist so ziemlich das Modernste, was der thüringische Strafvollzug zu bieten hat. 80 Millionen Euro wurden investiert, damit seit Sommer 2014 rund 160 Mitarbeiter gut 200 Insassen Vollbetreuung bieten können. Es gibt Sportplatz, Werkstätten, Gärtnerei, Lehrküche, Bibliothek, Kapelle . . .
So etwas lässt sich vorzeigen. Das ZDF drehte Dokumentationen, der MDR sendete Reportagen und die Wissensendung Galileo ließ für zwei Tage eine Reporterin einschließen. Das Bild war das eines menschlichen Gefängnisses, in der alle Beteiligten versuchen, straffällig gewordene Jugendliche zu resozialisieren – so gut das eben geht. Oder?
Nachdem an der Pforte der Personalausweis mit der Besucherkarte getauscht ist, öffnet sich die schwere, mindestens 20 Zentimeter dicke Automatiktür zur Sicherheitsschleuse. Durch ein paar Gänge, die in freundlichen Farben gehalten sind, geht es in einen Besprechungsraum.
Am Tisch sitzen die neue Anstaltsleiterin, ihr Stellvertreter, der zuständige Abteilungsleiter aus dem Justizministerium, der Sprecher des Ministers und der Sicherheitschef des Gefängnisses. Die leidige Angelegenheit, zu der man angemeldet ist, scheint höheres politisches Interesse zu beanspruchen. Es gibt Kaffee, Sprudelwasser und viele freundliche Sätze, die sich ausnahmslos zu einer zentrale Botschaft komprimieren lassen: An den Vorwürfen ist wenig dran. Die Vorwürfe stammen vom protestantischen Gefangenenseelsorger Hosea Heckert. Er hat sie in eine 20-seitige Petition an den Landtag geschrieben, in einer Strafanzeige gegen die Anstaltsleiterin an die Staatsanwaltschaft formuliert und dann dieser Zeitung erzählt. Sie lauten: Schikane, Mobbing, Körperverletzung im Amt. Dies nur unter anderem.
Einige Strafvollzugsbedienstete, behauptet Heckert, behandelten psychisch kranke Gefangene systematisch schlecht. Sie verhielten sich gegenüber Migranten rassistisch. Und sie tolerierten Gewalt unter Häftlingen.
Zwar handele es sich, auf diese Differenzierung legt der Pfarrer Wert, nur um eine Minderheit. Die meisten Mitarbeiter seien Leute, die sich zumindest bemühten. Doch da es an Personal fehle, würden auch die Gutmeinenden überfordert. Nichts mit Sekundärtugenden.
Der Abteilungsleiter aus dem Justizministerium, er heißt Thomas Schneider, lächelt ausdauernd und sagt, dass natürlich jeder Kritik nachgegangen werde. Die Eingabe des Pfarrers werde genauso ordnungsgemäß bearbeitet wie die Petitionen der Gefangenen. Aber schon jetzt lasse sich bilanzieren, dass da sehr wenig dran sei.
Er habe, fährt der Ministerialbeamte Schneider fort, mehrfach mit dem Pfarrer geredet, zu vermitteln versucht. Aber das habe, leider, wenig gebracht. „Herr Heckert und die Anstaltsleitung hatten eine unglückliche Beziehung, die sich über Jahre entwickelt hat. Am Ende war die Situation verfahren.“
Ein Seelsorger, der nach zehn Jahren an der Gefängnisfront nicht mehr zwischen ordentlichen Beamten und verurteilten Straftätern unterscheiden wollte: Dies soll die Erklärung für alles sein.
Oder?
„Alles Quatsch“, sagt Christoph Koch. „Der Pfarrer hat Recht.“Er sitzt eine halbe Autostunde vom Gefängnis entfernt in einem Schnellrestaurant in Ilmenau. Die Arbeitskluft in grellem Orange trägt er noch; seine Schicht in der Recyclingfirma, die ihn seit einigen Monaten beschäftigt, ist gerade vorbei.
Koch ist 29 Jahre alt, mehr als zwei davon saß er in Haft. Dass sein Sternzeichen Krebs ist, erkennt man an der großen Tätowierung, die seitlich an seinem Hals dunkel empor kriecht.
Während seiner Haft habe er oft mit Heckert gesprochen und dessen Gottesdienste besucht, sagt er. „Ein guter Mann, der wollte uns helfen.“
Sein Abstieg, wie Koch es selbst formuliert, begann 2011. Er hatte geheiratet, einen Sohn bekommen und ein Haus in einem Dorf bei Ilmenau gekauft. Nun war er pleite, die Ausbildung zum Kinderpfleger lief noch. Er googelte sich durch das Internet und kam auf eine besonders schlichte Betrugsidee. Auf Verkaufsplattformen bot er fabrikneue Smartphones an. Wenn die Käufer das Geld überwiesen hatten, schickte er ihnen nur wertlose Plastikkopien. Mit einem Einsatz von zehn Euro machte er so 700 Euro Profit, und dies mehr als 80 Mal. Nach mehreren Verurteilungen betrug die Haftstrafe vier Jahre und neun Monate. Im Mai 2014 trat er sie in Suhl-goldlauter an.
Kochi, wie ihn die Mitgefangenen nannten, startete sein Leben neu. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und begann eine neue Ausbildung, die er fortsetzte, als er Anfang 2015 nach Arnstadt verlegt wurde.
Anfangs war er von der Anstalt beeindruckt. Die Zellen wirkten auf ihn wie Hotelzimmer, mit Einzelbett, Fernseher, Dusche, Kühlschrank. Die JSA erschien ihm beinahe wie eine Berufsschule, in der sich rührige Sozialarbeiter um die Insassen kümmerten, faire Wachbeamten für Disziplin und verständnisvolle Seelsorger wirklich zuhörten. Das Gefängnis funktionierte sogar gelegentlich als Entspannungsort, an dem er Gitarre lernte, mit einer Band auftrat, Playstation spielte und die Haftkatze Lisa streichelte.
„Doch das“, sagt er, „war nur die eine Welt.“Das andere, parallele Universum, war voller gewaltbereiter Häftlinge und bestenfalls ignoranter Wachleute. „Es gab Beamte, die hatten sogar Spaß daran, die Gefangenen zu schikanieren“, sagt er. Manche davon „hatten Glatze“, waren rechtsradikal. Die riefen ihm dann im Sanitärtrakt Sätze zu wie: „Pass auf, wenn du mit dem Negerschwein unter die Dusche gehst.“
Wenn Christoph Koch über seine Zeit in Arnstadt redet, wirkt er gespalten. Er ist dankbar und er ist wütend.
Dankbar, dass er Vorarbeiter werden durfte. Dankbar, dass er dank der Empfehlung der Anstaltsleitung im Sommer 2016 nach der halben Haftstraße entlassen wurde. Dankbar, dass er es geschafft hat.
Und wütend darüber, dass Heckert nicht geglaubt wird. Vieles, sagt er, laufe in Arnstadt nicht so, wie es sollte. Als oberstes Gesetz zwischen den Gefangenen galt das Gesetz des Stärkeren. „Da waren kleine Jungs dabei, Minderjährige, die wurden ständig abgezogen.“Mal wurde ihnen nur der Pudding weggenommen, mal das ganze Essen. Mal mussten sie von ihrem bisschen Geld den Älteren und Kräftigeren Tabak kaufen.
Die Bediensteten, sagt Koch, hätten dagegen selten etwas getan. Ein Gefangener sei stark abgemagert, habe psychische Störungen gezeigt. So übergab er sich in seiner Zelle; das Erbrochene sammelte er in Schüsseln in seinem Schrank, um es danach wieder zu essen. Als dies ein Beamter mitbekam, habe der den Gefangenen angeschrien: „Du hast es doch an der Platte, du Simulant!“
„Der hat den richtig fertig gemacht“, sagt Koch. Der Gefangene habe zwar danach die doppelte Essensration bekommen – „aber auch die wurde natürlich von anderen abgezogen.“
Auch sonst gelte: Gewalt in Duschräumen oder im Sportraum sei normal. „In den Duschen geht es rund.“Dort seien keine Kameras, auch die Beamten kontrollierten nicht.
Zu oft, sagt er, sei zu wenig gegen Schikanen und Gewalt zwischen Häftlingen getan worden. „Auf einer Station gab es einen Sprachbehinderten, der musste sich ständig im Gemeinschaftraum zum Affen machen, aber der Beamte hat nur hinter der Plexiglasscheibe gegrinst.“
Ein Grund für diese Haltung sei, dass Personal fehle, überall. Wie Heckert hält es Koch für ein Problem, dass die Stationen mit zwölf Einzelzellen beim Aufschluss nur mit einem Beamten besetzt seien, zumal dieser dann noch zumeist hinter der Plexiglas-scheibe sitze und in den Computer starre. „Der sieht doch gar nicht, was hinten in den Hafträumen abgeht.“
Besonders häufig traf es die Ausländer, die etwa ein Viertel der Belegschaft ausmachen. „Viele blieben auf ihrer Zelle, gingen gar nicht zum Essen“, sagt Koch. „Wenn sie sich eine Essensbox bringen ließen, wurde oft reingespuckt, auch Fäkalien kamen da mal rein.“Weil es ein Migrant nicht mehr aushielt, schlug er immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand, bis er blutete. Aber auch das habe lange Zeit niemanden gekümmert.
Oder? Stimmt das, was Koch sagt? Auch wenn er offenkundig so etwas wie ein Musterhäftling war: Übertreibt er nicht? Lügt er vielleicht sogar?
Dagegen spricht, dass sich ähnliche Berichte in unzähligen Petitionen und Briefen vieler anderer Gefangener finden. Zudem gleicht seine Erzählung Heckerts Darstellung bis in die Details. Der Pfarrer kann sich zum Beispiel noch gut an den Häftling erinnern, der sein Erbrochenes aß. „Die Meldung des zuständigen Beamten, die ich dazu gelesen habe, war an Zynismus nicht zu überbieten“, sagt er. Der Gefangene Koch erfuhr selbst, was es bedeutet, psychische Probleme im Gefängnis zu haben. Wie viele andere führte er eine Strichliste der Tage, die er im Knast verbrachte. Immer stärker fehlte ihm die Familie, die Freunde, der Wald. Das Leben in Freiheit.
Eines Tages begann er zu zittern, der Kreislauf machte schlapp. Als er sich auf der Krankenstation meldete, wurde ihm nicht geglaubt. Er brach in der Schleuse zusammen, einem Raum von zwei mal zwei Metern. Doch selbst als er auf dem Boden lag, mit Krämpfen, schrien ihn die Bediensteten durch die Tür an: „Aufstehen! Aufstehen!“Erst nach zehn Minuten half man ihm. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, bekam ein starkes Antidepressivum verschrieben.
So jedenfalls berichtet es Christoph Koch, nüchtern, aber sehr bestimmt. „Ja, man ist ein verurteilter Straftäter“, sagt er. „Aber man ist doch trotzdem ein Mensch.“
Zurück in der Jugendstrafanstalt, im Besprechungsraum. Von den zuständigen Beamten werden derlei Berichte als Ausnahmen gewertet. Wenn sie denn stimmten. Die meisten Petitionen, sagt Ministeriumssprecher Oliver Will, stellten sich als falsch heraus. Den Einwand, dass dies unter Umständen auch daran liege, weil das Wort des Gefangenen gegen das der Anstaltsleitung wenig zähle, lässt er nicht gelten. Wie sollte es denn sonst funktionieren?
Der Minister hat auch ohne die neuen Vorwürfe schon ausreichend Ärger mit der JSA. Zu Silvester feierten die Belegschaften etlicher Hafthäuser das neue Jahr, in dem sie brennende Gegenstände und Klopapierrollen aus den Fenstern warfen.
Ein paar Tage später kletterten drei Häftlinge über die Mauer. Das Alarmsystem war wegen eines Sturms abgeschaltet worden. Auf die Monitore der Überwachungskameras, die den Ausbruch live dokumentierten, schaute offenkundig niemand. Christoph Koch, ehemaliger Häftling in der JSA Arnstadt
Schikane, Mobbing, Körperverletzung
In der Einrichtung hat es zwei Welten gegeben
Zusammenbruch auf der Krankenstation
„Ja, man ist ein verurteilter Straftäter. Aber man ist trotzdem ein Mensch.“
Die Anstaltsleiterin, die der Pfarrer angezeigt hat, wurde daraufhin versetzt. Ihre Nachfolgerin Mareen Stietz-engler ist erst ein paar Wochen da und hört hauptsächlich dabei zu, wie Abteilungsleiter Schneider redet – oder ihr Stellvertreter Jörg Bursian, der nebenbei noch die Thüringer Gewerkschaft der Strafvollzugsbediensteten leitet.
Bursian ist anzusehen, wie sehr ihn die Anwürfe des Pfarrers treffen. Jedes Delikt werde sanktioniert und gemeldet, sagt er, im vergangenen Jahr gab es wieder fast 100 Anzeigen.
Und was ist mit der Klage über zu wenig Personal, die er als Gewerkschafter erhob? Damit, antwortet er, habe er nicht Arnstadt gemeint, sondern andere Anstalten wie etwa in Tonna nahe Gotha, dort, wo die Schwerverbrecher sitzen.
Selbst im Gefängnis ist eben manches relativ. In Arnstadt wurde zuletzt gegen vier Bedienstete disziplinarisch vorgegangen. Gegen Beschäftigte in Tonna laufen 16 Ermittlungsverfahren. Zwar wurde das Verfahren, in dem es um organisierten Drogenhandel ging, gerade eingestellt. Doch die Ermittlungen wegen Korruption dauern an. So sollen sich Beamte in den Werkstätten bedient haben.
Auch dazu hat Christoph Koch in Ilmenau etwas zu erzählen. „Meine Schwippbögen waren richtig beliebt“, sagt er. Pünktlich vor Weihnachten habe er sie in der Tischlerwerkstatt auf Wunsch einiger Beamte zusammengesägt. Sie seien dann mit der Blumenlieferung aus der anstaltseigenen Gärtnerei nach draußen geschmuggelt worden.
Aber immerhin, den Ihk-abschluss als Holzfacharbeiter hatte er nach der Haft. Danach absolvierte er sogar noch eine Ausbildung, zum Lokführer.
Seine Bewerbung bei der Bahn läuft – so wie sein neues Leben. Die 6000 Euro Gerichtskosten stottert er langsam ab. Seinen Sohn sieht er so oft wie möglich. Und er hat eine neue Freundin.
Nur einmal im Monat trifft er noch seinen Bewährungshelfer. Er habe, sagt Christoph Koch, im Gefängnis viel gelernt, Gutes wie Schlechtes. Zurück wolle er nie wieder. Im Rausgehen, bevor er in seiner Arbeitsmontur aufs Fahrrad steigt, zeigt er die Tätowierung, die er sich während der Haft auf seine linke Hand stechen ließ. Es ist eine Taube.