Nächster Halt:
Die schwedische Inlandsbanan fährt 1300 Kilometer von Kristinehamn bis nach Gällivare in Lappland. Entlang der Panoramazugstrecke finden sich kleine Städte und weite Landschaften
Christer Sandstrøm betätigt den Bremshebel. Rentiere auf den Gleisen? Ein Elch im lichten Kiefernwald? Die Fahrgäste im rot-weißen Triebwagen der Inlandsbanan schieben die Fenster herunter und zücken die Kameras. Fehlalarm! Nur grüne Tannen und hier und da ein paar schmächtige Birken.
Der Waggon rollt einige 100 Meter rückwärts. Stoppt schließlich im Nirgendwo hoch oben in Schwedisch-lappland, drei Fahrstunden vom Polarkreis entfernt. Zugbegleiterin Sofia Wrangel öffnet die Einstiegstür. Vollbepackt mit Taschen keucht Malin Johansson die Stufen hinauf. Die alte Dame war spät dran. Christer Sandstrøm erspähte sie gerade noch zwischen den Bäumen am linken Schienenrand und fuhr einfach ein paar Meter zurück. Kein Problem.
Insgesamt 30 Jahre, bis 1937, dauerte die Konstruktion der knapp 1300 Kilometer langen Route von Kristinehamn am Vänernsee bis nach Gällivare in Lappland. Zwei Museen in den Bahnhöfen Sorsele und Moskosel informieren über den Trassenbau mit Pickel und Schaufel. Wie überall in Europa verlagerte sich der Personenverkehr ab den 1960er-jahren immer mehr auf die Straße. Irgendwann wurde die Inlandsbanan zu unrentabel für den schwedischen Staat. Doch eine Stilllegung der Strecke von Mora am Siljansee bis Gällivare konnte 1992 verhindert werden. Die Anliegergemeinden gründeten die Inlandsbanan AB, eine Aktiengesellschaft, die die staatliche Strecke seitdem unterhält. Und so rattern die renovierten 80er-jahre-schienenbusse weiter durch den schwedischen Sommer – der Mitternachtssonne entgegen.
In der Nähe von Mora startet am frühen Nachmittag ein Triebwagen zu einer zweitägigen Reise. Backpacker, Wanderer, Eisenbahnenthusiasten aus halb Europa. Sie bugsieren ihr Gepäck in den Waggon und verteilen sich auf die 60 Sitzplätze. Die Landschaft wirkt wie ein Gemälde, hingetupft scheinen die rotbraunen Holzhäuschen inmitten saftiggrüner Wiesen. „Gleich folgt eine Fotopause am Wasserfall Storstuped“, schallt Sofias Stimme aus dem Lautsprecher.
So eine lange Zugfahrt macht hungrig, doch bei der Inlandsbanan gibt es keinen Speisewagen. Die Passagiere können stattdessen aus einer schwedisch-englischen Menükarte Fisch-, Fleischund vegetarische Gerichte wählen. Sofia notiert die Essenswünsche und leitet sie an Restaurants entlang der Trasse weiter. Direkt vor der Haustür legt der Lokführer einen längeren Stopp ein. Am verschlafenen Bahnhof Fågelsjö hält er für eine kurze Fika (Kaffeepause) mitten im Wald. Auf einem Tisch sind Rentierund Lachsburger angerichtet. In einem Korb duften frisch gebackene Kanelbullar, Schwedens berühmte Zimtschnecken.
Weiter geht’s! Mit meist 60 bis 80 km/h. Klack, klack, klack. Durch viele Kurven. Vorbei an endlos erscheinenden Seen, auf denen die Sonnenstrahlen grell glitzern. Spätes Ziel des ersten Reisetages: Östersund in der Provinz Jämtland. Ein 45.000 Einwohner zählendes Städtchen mit vielen Backsteinbauten.
Ein neuer Morgen nach einer kurzen Nacht. Alte und neue Gesichter sieht man am Bahnhof. Rund 14 Stunden wird die Inlandsbanan für die knapp 750 Kilometer bis Gällivare benötigen. Je weiter es gen Norden geht, desto spärlicher werden die Wälder. Rosafarbene Lupinen wippen im Wind. Riesige weiß gewaschene Findlinge schimmern zwischen Blaubeersträuchern, weißen Rentierflechten, grünen Moosen und Farnen. Überbleibsel der letzten Eiszeit.
Mittagsrast am Volgsjönsee in Vilhelmina Norra. Schnelle Stärkung mit heiß geräuchertem Pfefferlachs. Noch eine Stunde, und dann ist Lappland erreicht. „Es umfasst ein Viertel der Landesfläche und zählt nur 1,3 Prozent der schwedischen Bevölkerung“, sagt Sofia.
Trööt. Trööt. Immer wieder gibt Christer Warnsignale, um grasende Rentiere und Elche von den Gleisen zu verscheuchen. Ansonsten: Einsamkeit!
„Nächster Halt: Polarkreis“, ruft Sofia plötzlich. Ein paar weiße Steine markieren den 66. Breitenkreis nördlicher Breite, hinter dem im Sommer die Nacht zum Tag wird.
Vor der Endstation Gällivare muss der Zug einer Erzbahn auf dem Weg ins norwegische Narvik Vorfahrt gewähren. Das Lebenselixier Gällivares ist Eisenerz. Die Nachbarstadt Malmberget (Erzberg) wäre ohne Erz nie entstanden. Hier befindet sich die zweitgrößte Eisenerzgrube der Welt. Sie ist 1250 Meter tief. Die Stadt entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts. Nur hatte damals niemand bedacht, dass sie in der Zukunft zu nahe an der Grube liegen würde. „In den vergangenen vierzig Jahren mussten bereits viele Bewohner umziehen“, sagt Lars Israelsson vom Dokumentationszentrum Malmberget.
Auch an diesem Sommerabend geht die Sonne hinter Gällivares Hausberg, dem 823 Meter hohen Dundret, nicht unter. Um Mitternacht ist es noch genauso hell wie am nächsten Morgen, als es heißt: Abschied nehmen vom hohen Norden. Über 1000 Kilometer rattert die Inlandsbanan zurück durch menschenleere Waldweiten, einsame Seen- und Moorlandschaften. Klackklack, klack, klack.