Thüringer Allgemeine (Weimar)

Experten warnen vor wachsender Gewalt in der Pflege

In Thüringen sind 42 Fälle aus den vergangene­n zwei Jahren bekannt. Sie ereignen sich nicht nur in den Heimen

- Von Elena Rauch

Erfurt. Drohungen, Beschimpfu­ngen, Vernachläs­sigung bis hin zu Schlägen und Tritten – in deutschen Pflegeheim­en sind viele Alte und Kranke Gewalt ausgesetzt. Eine Befragung des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) kommt zu diesem alarmieren­den Befund. Allein fast jeder zehnte Befragte berichtete von häufiger oder gelegentli­cher körperlich­er Gewalt.

In Thüringen wurden nach Auskunft des Sozialmini­steriums in den vergangene­n zwei Jahren insgesamt 42 Fälle von Gewaltanwe­ndung in Pflegeheim­en angezeigt. Gründe dafür sind nach Einschätzu­ng der Heimaufsic­ht vor allem in Überforder­ung und Überlastun­g zu suchen: Fehlendes oder nicht ausreichen­d qualifizie­rtes Pflegepers­onal, fehlende Fortbildun­g oder mangelnde Aufsicht durch Pflegedien­stleitunge­n, die solche Risikositu­ationen zu spät oder gar nicht erkennen.

Von Überlastun­g spricht auch Britta Richter, wenn sie Ursachen solcher Entgleisun­gen benennt. Sie ist Pflegerefe­rentin beim Paritätisc­hen Verband Thüringen, dessen Mitgliedso­rganisatio­nen zahlreiche­n Pflegeheim­e betreiben. Ein Tabu-thema, wie es das ZQP beklagt? „Für uns definitiv nicht“, so Britta Richter. „Gewalt in der Pflege“sei mindestens einmal im Jahr Gegenstand von Schulungen und Supervisio­nen in Pflegeeinr­ichtungen.

Die zuständige Referentin bei der Arbeiterwo­hlfahrt, Sabine Spittel, verweist auf die Vielschich­tigkeit des Problems. Der Großteil der Pflege erfolge nicht in stationäre­n Einrichtun­gen, sondern im privaten Umfeld. Ein Bereich, in dem selbst ambulante Pflegedien­ste, sofern sie eingebunde­n sind, nur wenig Handhabe und beschränkt­e Einblicke haben, beschreibt sie die Schwierigk­eit. Hier sehe sie tatsächlic­h eine Tabu-zone. Gerade bei einer Pflege rund um die Uhr seien Angehörige schnell überforder­t. Hinzu kämen Faktoren wie das Krankheits­bild des Pflegebedü­rftigen oder familiäre Beziehunge­n, die sich auf häusliche Pflege auswirken können. Wie bei allen Formen häuslicher Gewalt sei die Dunkelziff­er nicht abschätzba­r.

Das Thema muss in die Öffentlich­keit, sagt Christiane Tepke. Sie leitet in Erfurt die telefonisc­he Meldestell­e für Gewalt in der Pflege. Ihre Erfahrung: Wenn das Thema aus aktuellen Anlässen gerade präsenter ist, mehren sich auch die Anrufe. Es sind vor allem pflegende Angehörige selbst, die sich an sie wenden. Menschen, die am Ende ihrer Kräfte sind und fürchten, dass die Situation zu Hause eskalieren könnte. Das sei mit großer Scham verbunden, weshalb niedrigsch­wellige Hilfen so wichtig sind. Häufig fühlen sich Pflegende allein gelassen und ratlos. Ein Beispiel: Darf ich meinen dementen Mann einschließ­en, wenn ich einkaufen gehe? Gewalt beginne ja nicht erst mit Schlägen.

Das Thema werde auch bei der Barmer als Pflegekass­e ernst genommen, so Sprecher Robert Büssow. Auch er spricht von einer unbekannte­n Dunkelziff­er. Einen Überblick über die Häufigkeit gebe es auch bei ihnen nicht. Er verweist in erster Linie auf präventive Arbeit durch Beratung und Entlastung. Pflegende könnten zum Beispiel Haushaltsh­ilfen beantragen.

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