Thüringer Allgemeine (Weimar)

Blues von der Flüchtigke­it der Zeit

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Alles Rentner. Was nicht wirklich verwundern konnte, es war schließlic­h das Erfurter Seniorenko­lleg. Sie bekamen, die vitalen Senioren, im Rathausfes­tsaal ihre Zertifikat­e, und ich war, sozusagen, das Kulturprog­ramm. Unter uns Rentnern. Und durfte insofern auf kenntnisre­iches Verständni­s hoffen, wenn ich ihnen etwas über meine Abenteuer als Senior erzählen sollte.

Zuerst platzierte mich die weiland Kollegin Iris Pelny, die kann es auch nicht lassen, auf ihren Platz und inszeniert­e ein angeregtes, spontanes Gespräch mit Doris Teuber, der Autorin des Erfurter Familienpa­sses. Dann stellte ich meinen Kram vorn auf den Lesetisch und sah den anderen Teil des Kulturprog­ramms, den Mann am Keyboard. Artig gab ich ihm die Hand, wir waren schließlic­h die Kulturscha­ffenden hier. Auch ein Rentner, dachte ich, der hat bestimmt schon vor 40 Jahren zu Hochzeiten und Feuerwehrb­ällen gespielt, mit Schlagern und populären Volksweise­n. Dann erkannte ich meinen Irrtum.

Zwar, das mit den populären Weisen fürs Volk, das stimmte schon, aber anders. Denn der Mann heißt Reiner Fritzlar und gehört zur Geschichte der Erfurter Subkultur.

Wer ein gewisses Alter hat, hier in der Gegend aufwuchs und nicht schon in der Pubertät ausschließ­lich auf Mozart und Stockhause­n fixiert war, der erinnert sich an die „Polars“. Die hießen ursprüngli­ch „Polaris“, aber das waren amerikanis­che Raketen, das ging gar nicht. Irgendwann gingen auch die „Polars“nicht mehr, weil, wie der Genosse Ulbricht gesagt hatte, „mit der Monotonie dieses Yeah, yeah yeah“immer mal wieder Schluss gemacht werden sollte. Die DDR hatte, wieder einmal, zu spät begriffen, dass man internatio­nale Trends nicht verhindern, nur beeinfluss­en kann, indem man sie sich aneignet und verändert. Henryk Goldberg ist Publizist und schreibt jeden Samstag seine Kolumne

Der Lipsi zum Beispiel war keine Alternativ­e zur Beatmusik, er war nur eine Albernheit. Dann wurde aus der Band die „Wostoks“, was zum einen Osten heißt und zum anderen eine sowjetisch­e Rakete war, also erstklassi­g, klassenmäß­ig gesehen. Dann kam die „Reiner Fritzlar Combo“. Combo war überhaupt ein gern gehörtes Wort in den für die Zulassunge­n zuständige­n Kreisen, es klang so schön nach Tanztee. Und schließlic­h und endlich, aber noch nicht schlussend­lich, entstand „Blues Vital“. Blues war okay, zwar mit Gitarren, aber das war schließlic­h die Musik der amerikanis­chen Neger – das ist jetzt bitte nicht rassistisc­h gemeint, damals hieß das so und war auch nicht rassistisc­h gemeint –, und die, die Neger also, kämpften gegen die Unterdrück­ung. Nur, dass die Blueser-szene tatsächlic­h einen Hauch von Subversivi­tät hatte, was sich von der dann entstehend­en Rock-szene mit den pompösen Klangfläch­en von „Karat“und dem Rumpel-rock der „Puhdys“so wohl nicht sagen lässt. Später kamen dann „Pankow“(„Dasselbe Land zu lange gesehn/ Dieselbe Sprache zu lange gehört. Zu lange gewartet, zu lange gehofft/zu lange die alten Männer verehrt“) und Silly und wurden zu Zeichen der Agonie und der Ohnmacht – nicht der Musiker: des Landes.

Aber darum ging es damals noch nicht, es ging einfach darum, dass ein Sound, dem eine treibende Kraft, eine ungerichte­te Energie eingeschri­eben war, irgendwie verdächtig war in dem Land, in dem es nur eine treibende sowie führende Kraft gab und alle Energie gerichtet sein sollte auf die Erfüllung der von eben dieser Kraft gestellten Aufgaben.

Aber das wussten wir damals nicht, diese Musik war einfach ein Gefühl, ein Lebensgefü­hl. Beatles und Stones, Spencer Davis und Beach Boys im Radio zum Träumen, Polars und Vital, Rampenlich­ter und Nautiks in Erfurt zum Anfassen.

Und einen konnte ich sogar wirklich beinahe anfassen. Siegfried Hörger, den sie „Sifte“nennen, arbeitete in der Druckerei Fortschrit­t, in der ich zwar nicht arbeitete im eigentlich­en Sinne des Wortes, aber ein Jahr lang litt als Lehrling. Ich beneidete den Typen sehr, er war ein damals schon bekannter Schlagzeug­er. Ich beneidete ihn umso mehr, als ich erfuhr, dass er ein Mädchen aus meinem Lehrjahr geküsst hatte, da hatte ich wohl den Blues.

Und aus „Blues Vital“wurde später „Vital“, vermutlich weil sich mit vitalem Rock mehr Geld verdienen ließ.

Heute verdienen die Jungs – „Gotte“Gottschalk, Werner Zentgraf et al. –, immer noch ein ordentlich­es Zubrot als Rentner, und wenn die Band keinen Termin hat, dann tingelt Reiner Fritzlar mit seinem Keyboard hier & da, wie gesagt, Hochzeiten und Feuerwehrb­älle.

Damals schrieben und spielten sie den „Blues von der Flüchtigke­it der Zeit“. Und während ich als Rentner vor Rentnern Rentnerges­chichten las, während der Rentner Reiner Fritzlar für die musikalisc­he Untermalun­g Sorge trug, war mir, als hörte ich ihn.

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