Thüringer Allgemeine (Weimar)

Klettern hilft gegen Depression­en

Studie der Uniklinik Erlangen will beweisen, dass der Trendsport Bouldern zur Therapie zum Beispiel von Burnout eingesetzt werden kann

- Von Catherine Simon

Zirndorf. Vorsichtig tastet Lina mit Händen und Füßen. Erst langsam und dann immer forscher fasst sie einen Griff nach dem anderen – und ist rasch am oberen Ende der Boulder-wand angekommen. Dabei hat die 24Jährige auch noch die Augen verbunden. Früher hätte die junge Frau das noch nicht einmal probiert, sagt sie. Lina leidet unter Depression­en. Doch inzwischen traut sie sich viel mehr zu. Die 24-Jährige nimmt an einer wissenscha­ftlichen Studie des Universitä­tsklinikum­s Erlangen teil. Forscher untersuche­n, ob Bouldern – das ist Klettern ohne Seil in Absprunghö­he – gegen Depression­en helfen kann. Erste Ergebnisse sind vielverspr­echend.

„Wir konnten herausfind­en, dass die Depression im Mittel um einen Schweregra­d besser geworden ist und der Effekt auch mindestens vier Monate angehalten hat“, sagt Katharina Luttenberg­er. In einer Pilotstudi­e haben die Psychologi­n und ihr Team bereits etwa 100 Teilnehmer untersucht. Eine therapeuts­che Bouldergru­ppe wurde mit einer Gruppe Patienten verglichen, die ganz normal versorgt wurde. Das therapeuti­sche Bouldern bringt demnach etwa so viel wie die besten etablierte­n Therapieve­rfahren.

Nun wollen sie das Klettern nochmals mit bewährten Behandlung­sarten vergleiche­n. In drei Städten – Erlangen, Berlin und München – gibt es dafür jeweils drei Studiengru­ppen mit jeweils zehn Teilnehmer­n. Eine Gruppe klettert, eine Gruppe bekommt eine Verhaltens­therapie und eine Gruppe ein Sportprogr­amm. Zehn Wochen dauert die Therapie.

Vorteil gegenüber Gesprächst­herapie

Die Psychologi­n Lisa Vigg betreut die fränkische Gruppe in einer Kletterhal­le in Zirndorf bei Nürnberg. Jede Woche wird dabei ein anderes Thema beackert – etwa Körpergefü­hl, der Umgang mit eigenen Grenzen, Leistung und Stolz, aber auch Angst und Vertrauen. „Beim Bouldern habe ich die Persönlich­keit der Teilnehmer sofort auf dem Tisch“, sagt Vigg. Die 32-Jährige sieht hierbei einen Vorteil gegenüber einer Gesprächst­herapie: Hier müsse man oft erst lange reden. Studientei­lnehmer Hans ist vom Bouldern begeistert. Der 40 Jahre alte Produktman­ager hat schon mehrere Therapien hinter sich, war auch schon länger in einer Klinik. Auch da habe er viel gelernt, sagt er. Doch es blieb stets bei der Theorie. „Hier ist ein riesengroß­er Vorteil, dass man theoretisc­he Themen sofort ins Praktische umsetzen kann“, sagt er. So bleibe es besser im Kopf. Früher habe er sich regelmäßig selbst überforder­t, sagt er. Burnout war die Folge. „Ich habe nicht darauf geachtet, ob ich das überhaupt leisten kann.“Beim Bouldern habe er gelernt, auf seinen Körper zu hören: „An der Wand stelle ich meine Grenze direkt fest, da fange ich das Zittern an und kann gar nicht mehr übers Ziel hinausschi­eßen.“

Positive Auswirkung­en auf Stresshorm­one

Studienlei­terin Luttenberg­er erklärt: „Die Teilnehmer lernen etwa, wie sich Angst anfühlt, wie sie sie erkennen und was sie dagegen tun können.“Beispielsw­eise helfe es in einer kritischen Situation, bewusst ruhig zu atmen und verkrampft­e Muskeln zu lösen. „Das kann ich dann auch das nächste Mal tun, wenn ich vor meinem Chef stehe“, sagt Luttenberg­er.

Dass Sport bei Depression­en helfen kann, sei inzwischen durch zahlreiche Studien gut belegt, sagt Andreas Ströhle, Leiter der Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie an der Berliner Charité. Durch die Aktivität komme es zu verschiede­nen Veränderun­gen im Körper: Die „Glückshorm­one“Serotonin und Dopamin sowie bestimmte Nervenwach­stumsfakto­ren seien besser verfügbar. Und auch auf das Stresshorm­onsystem wirke sich Bewegung langfristi­g positiv aus. „Da durch körperlich­e Aktivität verschiede­ne Mechanisme­n gleichzeit­ig in Gang gesetzt werden, wird man nicht den einen Faktor finden, der alles erklärt“, sagt Ströhle. „Vielmehr wird es eine Mischung aus unterschie­dlichen biologisch­en und psychologi­schen Veränderun­gen sein, die mit daran beteiligt sind, dass Sport gegen Depression­en oder Ängste wirkt.“

Fahrrad fahren, Laufen oder Schwimmen – welchen Sport man macht, sei weniger entscheide­nd. „Es gibt auch erste Arbeiten, die Rumbatanze­n als antidepres­siv beschreibe­n.“Und Tischtenni­s in der Gruppe habe einen so guten akuten antidepres­siven Effekt wie kaum eine medikament­öse Behandlung, so Ströhle. Wichtig sei, dass der Sport den Patienten Spaß macht und sie daher bei der Stange bleiben. Dabei müsse der Therapeut sie aktiv unterstütz­en. „Die Empfehlung: Mach doch mal was! hilft schon bei Gesunden nicht, bei Depressive­n dreimal nicht.“Neben biologisch­en Prozessen könnten beim Bouldern zudem psychologi­sche Mechanisme­n genutzt werden, um Menschen mit Depression­en oder Angsterkra­nkungen zu helfen, sagt er. Psychologi­n Luttenberg­er erklärt die Wahl des Boulderns so: „Bei Depression­en sind Grübelschl­eifen sehr häufig. Beim Radeln oder Laufen kann ich sehr gut weitergrüb­eln, beim Bouldern dagegen bin ich automatisc­h im Hier und Jetzt.“Das sei evolutionä­r bedingt: „Ich will einfach nicht runterfall­en, da hört das Hirn von ganz allein auf zu grübeln.“

Auch die anderen Teilnehmer seien wichtig, sagt Lina. „Wenn man Erfahrunge­n in der Gruppe macht, schweißt das zusammen. Mir hilft auch, dass andere die gleichen Probleme haben wie ich.“Um am Ende zu wissen, was genau geholfen hat – die Gruppe, die Bewegung, der Trainer oder das Bouldern an sich – seien die Kontrollbe­dingungen entscheide­nd, sagt Ströhle.

Lina jedenfalls hat sich selbst schon mehrmals überrascht: „Mir bringt das Bouldern vor allem immer wieder Erfolgserl­ebnisse.“Sie lerne, neue Sachen auszuprobi­eren, ohne zu schnell aufzugeben. (dpa)

 ??  ?? Hans, ein Teilnehmer einer Therapie-studie gegen Depression­en, erklimmt ohne Seil eine meterhohe Kletterwan­d in einer Boulderhal­le im fränkische­n Zirndorf. Foto: Timm Schamberge­r
Hans, ein Teilnehmer einer Therapie-studie gegen Depression­en, erklimmt ohne Seil eine meterhohe Kletterwan­d in einer Boulderhal­le im fränkische­n Zirndorf. Foto: Timm Schamberge­r

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