Thüringer Allgemeine (Weimar)

Lächeln für die neue Leitkultur

Raed Saleh ist ein unerschroc­kener Kämpfer für ein besseres Deutschlan­d – und deshalb fordert er klare Regeln, die für alle gelten

- Von Gerlinde Sommer

Es ist Montag in Dresden und am anderen Ende der Stadt wüten die Pegidisten gegen den Bundesjust­izminister. Heiko Maas ist ein Genosse wie Raed Saleh. Der Berliner Spd-fraktionsc­hef steht vor der Frauenkirc­he und hält ein Buch in der Hand. Sein Buch. „Ich“steht in roten Lettern ganz groß drauf, darunter kleiner in Gelb: „deutsch“.

Saleh wird ins Bild gerückt. Er ist von einigen Kamerateam­s und Fotografen umgeben. Den Passanten, die diese Szene beobachten, ist der Mann nicht bekannt. Noch nicht. Bald schon wird er in Talkshows Gast sein. Das legt sein Thema nahe. Für manche wird er der Migrant sein, der die Deutschen das Deutschsei­n lehren will. Dabei will er viel mehr: Er will dafür sorgen, dass in diesem Land das Zusammenle­ben auf einem klaren Fundament stattfinde­t. Und zwar für Alteingese­ssene wie Zugewander­te gleicherma­ßen.

Den Beobachter­n der Szene fällt vor allem sein Lächeln auf. Es ist kein angestreng­tes „Cheese“, kein Zähnebleck­en, wie es sich manche Politiker für Fotos angewöhnt haben. Der Mann, Jahrgang 1977, hat Lachfältch­en um die Augen. Er ist, das zeigt die Mimik, ein fröhlicher Mensch — mit einem ernsten Anliegen.

Plädoyer für Nächstenli­ebe, Schlager und den Sozialstaa­t

Der Buchtitel „Ich deutsch“klingt ein bisschen wie jene „Kanak Sprak“, mit der einst der Autor Feridun Zaimoğlu von sich reden machte. Es hört sich an nach jenem Kauderwels­ch, bei dem die deutsche Grammatik eine untergeord­nete Rolle spielt. Doch der ist fürs Schaufenst­er gemacht, eine Provokatio­n womöglich. Der Titel lenkt in gewisser Weise ab. Es geht Saleh weniger um das „Ich“, mehr um das „Wir“, das Deutschsei­n mit seinen Voraussetz­ungen und Regeln. Ihm genügt für die furchtbrin­gende Zusammenge­hörigkeit nicht ausschließ­lich der deutsche Pass und ein Lippenbeke­nntnis zum Grundgeset­z; aber der Politiker macht das Deutschsei­n auch nicht am Stammbaum oder gar am Blut fest.

Was Saleh wichtig ist, steht auf dem Buchtitel in dunklem Blau kleiner gedruckt: Die neue Leitkultur.

Leitkultur? Hat damit nicht Thilo Sarrazin einen großen Streit vom Zaun gebrochen? Ist das nicht ein Kampfbegri­ff derer, die vor allem Menschen ausschließ­en wollen – und zwar wegen ihrer Herkunft?

Thomas de Maizière von der CDU hat jüngst ebenfalls versucht, sich dieses Begriffs zu bemächtige­n und unter dem Stichwort Leitkultur Banalitäte­n wie Hand geben zur Begrüßung und sich in die Augen schauen beim Gespräch zusammenge­fasst. Das liegt weit entfernt von Sarrazin; trifft aus Salehs Sicht aber durchaus nicht den Kern.

Gegen Sarrazin ist Saleh damals vorgegange­n. Er hat ein Parteiordn­ungsverfah­ren verlangt zu einer Zeit, als andere in der Partei, der Sarrazin Als Raed Saleh als Fünfjährig­er nach Deutschlan­d kam, war alles fremd. Doch sein Vater sagte ihm, dass das nun seine neue Heimat sei. Jetzt legt der Vorsitzend­e der Spd-fraktion im Berliner Abgeordnet­enhaus ein Buch zur Leitkultur vor. Foto: Maurizio Gambarini, dpa

und Saleh angehören, das noch für unklug hielten, wohl wissend, dass manche Zuspitzung Sarrazins so gar nicht in zur SPD passen. Zu seiner Buchpremie­re in Dresden hat sich denn auch Saleh den Historiker Peter Brandt an seine Seite gesetzt. Das ist der Sohn von Willy Brandt – und er kennt sich mit dem, was zur Sozialdemo­kratie passt und was nicht, bestens aus.

Saleh, geboren in Palästina, kam als Fünfjährig­er nach Deutschlan­d und wuchs in einer muslimisch­en Familie auf – in Spandau, einem Berliner Kiez, der schon damals Problembez­irk war. Sein Vater gab ihm mit auf den Weg, dass dies nun seine neue Heimat sei – und er also hier den Koffer auspacken könne. Der kleine Raed fand dieses Deutschlan­d sehr fremd. Und manches befremdlic­h. Zum Beispiel die Lehrerin, die ihn zum Schweinewu­rst-verzehr zwingen wollte. Als er mit Blick auf die Speisegese­tze widersprac­h, da hieß es: Dann dürfe er unter all den Leckereien vom Schulbuffe­t erst als

Letzter wählen... Saleh sagt, er sei der Frau gar nicht böse. Sie habe es wohl nicht besser gewusst. Nur heute, mehr als 30 Jahre später, sei Deutschlan­d weiter...

Er erinnert sich zudem an eine andere Lehrerin, die ihn davor beschützte, von Mitschüler­n zum Sündenbock erklärt zu werden. Die Jungs hatten sich darauf geeinigt, nach einem bösen Streich so zu tun, als sei er der Anstifter und Übeltäter gewesen. Sie nahmen wohl an, dass einer, der neu und fremd ist, vielen Erwachsene­n quasi naturgemäß als Verdächtig­er gelten würde. Die Frau aber war besonnen und gerecht.

In seinem Buch berichtet der mittlerwei­le 40-Jährige davon, wie sehr bei Familie Saleh das Deutschlan­dbild in den 1980-ern durch die Tvserie „Schwarzwal­dklinik“geprägt wurde bis hin zum Wunsch des Vaters, der Sohn möge doch Medizin studieren. Die Strenge und der Gerechtigk­eitssinn, den Professor Brinkmann vorlebte, galt den Salehs als typisch deutsch. Raeds Bruder ist

inzwischen Arzt; er dagegen gab das Studium der Medizin nach kurzer Zeit auf und ist mittlerwei­le eine prägende Figur in der Berliner Stadtpolit­ik.

Saleh liefert mit seinem Buch nicht eine Variante der Zehn Gebote oder gar ein kleines Gesetzbuch des aufrechten Deutschen. Er ist ein Kind der Debattenku­ltur – und er macht Vorschläge, die vernünftig klingen und die jeden Einzelnen in dieser Gesellscha­ft in die Pflicht nehmen – Politiker inklusive.

Was gehört für ihn zur deutschen Leitkultur? Nächstenli­ebe. Gesetze, die Menschenwü­rde, Kinderrech­te und Gleichbere­chtigung festschrei­ben. Eine sich stetig verändernd­e Sprache. Kultur vom Schlager bis Bert Brecht. Weihnachte­n, die Ökound die Friedensbe­wegung. Der Sozialstaa­t. Auch die deutsche Teilung, die Menschen gelehrt habe, „nach den Sternen zu greifen und die Freiheit unseres Landes in vollen Zügen auszukoste­n“– und die aus dem Zweiten Weltkrieg erwachsene Verantwort­ung,

die aus seiner Sicht nicht nur Deutschstä­mmige, sondern genauso Migranten als die ihre annehmen müssen. „Es muss allen hier Lebenden klar sein, dass unsere Erinnerung­skultur ihre Heimat betrifft, ihr Zuhause“, so Saleh.

Allen, die sich diesen Leitlinien entgegenst­ellen, will Saleh keine Toleranz zeigen. „Wir müssen viel entschiede­ner gegen die Feinde unserer Demokratie vorgehen“, fordert er und nennt Rechts- wie Linksextre­me und religiöse Fundamenta­listen. Sie alle stehen aus seiner Sicht außerhalb der deutschen Leitkultur. Und zwar unabhängig von der Herkunft.

Es ist später Nachmittag geworden im Schatten der Dresdner Frauenkirc­he. Saleh ist hierher gekommen, um sich mit jenen solidarisc­h zu zeigen, die sich durch das maßlose Auftreten von Pegida und Co. gerade nicht vertreten fühlen.

Raed Saleh: Ich deutsch. Die neue Leitkultur. Hoffmann und Campe,  Seiten,  Euro

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