Schwarz mit Senf I
rgendjemand von uns war darauf gekommen, ich nicht. Aber ich fand es großartig. So saßen wir dann im Club des Erfurter Schauspielhauses – vulgo: Kantine – und tranken Kaffee. Aber nicht einfach so, das konnte schließlich jeder, und das wollten wir schließlich nicht sein: jeder. Also, es gab Kaffee und dazu bestellten wir ein Schälchen Senf.
Senf? Senf.
Es ergab, rational betrachtet, weder Sinn noch Geschmack. Aber es war toll, es war besonders, es war anders – und das war der Sinn. Drei junge Bühnenarbeiter, Harald, der ein richtiger Schriftsteller wurde; Jürgen, ein gewesener Student der katholischen Theologie, der weder mit Gott noch den Menschen richtig klar kam und doch ein mir wichtiger Mensch war damals, und der künftige Student der sozialistischen Theaterwissenschaft, der auch irgendwie, irgendwas schreiben wollte, aber keine Bücher konnte und deshalb Journalist wurde. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass die Vertreter dieses Berufsstandes sich durch die Eigenart auszeichnen, zu allem ihren Senf dazuzugeben, und mangels anderer Gelegenheiten sich halt nur der Kaffee anbot. Natürlich war die Nummer mit dem Senf Quark, aber schön war es doch.
Ich komme darauf, weil Krebsforscher der Nationalen Gesundheitsinstitute der USA unlängst eine frohe Botschaft verbreitet haben. Es wurde nämlich die Gesundheit von 500 000 Menschen analysiert. Kaffeetrinker, so lautet die Botschaft, haben weniger Krebs und weniger Herzinfarkte. Wer nämlich eine Tasse täglich trank, reduzierte sein Risiko im kommenden Jahrzehnt zu sterben um 8 Prozent. Bei drei bis acht Tassen sank dieses Risiko sogar um 12 bis 16 Prozent gegenüber Kaffee-abstinenzlern. Auch sei es nicht entscheidend, auf welche Weise der Kaffee bereitet wird, wenn Henryk Goldberg ist Publizist und schreibt jeden Samstag seine Kolumne auch der Gebrühte besonders vorteilhaft sei, so gelten die positiven Effekte auch für löslichen Kaffee, also auch für mich.
Denn als ehemaliger Bühnenarbeiter und Theaterkritiker halte ich es da mit Lessings Wirt, der das Fräulein von Barnhelm beherbergt: „Der liebe melancholische Kaffee“, erstmals gehört übrigens auch in jener Zeit, Klaus Grau war der Wirt, Christel Leuner die Minna – aber nun werde ich auch ohne Kaffee melancholisch.
Damals waren wir es im Grunde immer ein bisschen, wenn wir Kaffee tranken in Mengen, völlig uninformiert übrigens über die und desinteressiert an den gesundheitlichen Implikationen des Genusses, schließlich, mit 20 ist Sterben ein Wort, das für das Leben keine Bedeutung hat. Aber melancholisch wurden wir bei dem Gedanken, wer alles durfte, was wir nicht durften obgleich wir es, ganz sicher, viel besser gekonnt hätten: Schreiben, was auch immer, Theater machen, wie auch immer, große Klappe haben, worüber auch immer.
Gelegenheiten zum Genuss gab es nicht eben reichlich, aber ausreichend. Vorwiegend im „International“, das gibt es nicht mehr. Und die Kännchen Kaffee, die gibt es auch kaum noch, die hat der Zeitgeist geschluckt. Damals war das ziemlich praktisch, bei der Personalsituation und der Personalverfassung vieler gastronomischer Einrichtungen gleich die doppelte Portion bestellen zu können. Nach dem dritten Kännchen am Stück wurde es manchmal etwas klumpig und dumpfig im Magen, aber was sein muss, muss sein. Ich bin nicht sicher, ob die beiden später folgenden Magenoperationen eine unmittelbare Folge waren, aber fürs Herz und das Leben war es, wie ich ja seit dieser Woche weiß, doch ein Segen. Ein Mann denkt eben langfristig.
Aber den Orten unserer Kaffe-orgien haben wir keinen Segen gebracht, es gibt sie nicht mehr. Nicht den Club im Schauspielhaus, nicht das „International“, nicht das „Café Nüsslein“. Das war eher ein großes Zimmer hinter der Bäckerei als ein wirkliches Cafe, sein Charme war die Nähe zu den beiden Häusern des Theaters. Heute verkaufen sie dort Essen, das mit der sprudelnden Lieferung aus dem EAS (Europäisches Asia-soßen Verbundsystem) aufgeweicht wird. Und die Mokka-bar im Erfurter Hof. Zwar hatte die ein Publikum, das aus unserer Perspektive irgendwie mit den bunt bemalten Sammeltassen verschmolz, aber sie machten den besten Kaffee der Stadt.
Die exzessiven Kaffeehausbesuche hörten auf, als ich anfing, in dem Beruf zu arbeiten, der als berüchtigt für exorbitanten Kaffeekonsum gilt. Irgendwas hatte ich wohl falsch verstanden bei Egon Erwin Kisch, Journalismus fand jenseits von Prag und Wien eher nicht in Kaffeehäusern statt. Jetzt trinke ich ihn noch immer in Mengen, aber meist so in der Art, die Paul Fleming beim Küssen für angemessen hielt: Mehr alleine denn bei Leuten.
Senf gibt es nicht mehr dazu, nur manchmal ein klitzekleines bisschen Melancholie.