Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

„So muss es sein, wenn man angeschoss­en wird“

Jürgen Marschall aus Weimar lebt seit knapp zwei Jahren mit einem fremden Herzen

- VON ESTHER GOLDBERG

WEIMAR. Er hat diesen Brief immer noch nicht geschriebe­n. Er kann nicht. Obwohl Jürgen Marschall, gelernter Buchhändle­r aus Weimar, doch nicht um Worte verlegen ist. Aber diesmal geht es nicht. Seit knapp zwei Jahren schon will er mit der Hand einen Brief schreiben und scheitert doch immer wieder.

Denn der Brief soll an die Angehörige­n des ihm unbekannte­n Spenders seines neuen Herzens gehen. Oder war es eine Spenderin? Er weiß es nicht, und er wird es nicht erfahren. Aber das Dankeschön, das würde er gern los werden. Sozusagen aus tiefstem Herzen.

Knapp zwei Jahre lebt der heute 57-Jährige mit diesem fremden Herzen, das recht zuverlässi­g in seiner Brust schlägt. „Ich hoffe, noch sehr lange“, sagt Jürgen Marschall. Elf Tabletten schluckt er dafür am Tag. Zehn Tabletten davon schon am Morgen. Damit sein Körper nicht gegen dieses Herz ankämpft, das zu seinem geworden ist. Abstoßungs­reaktion sagen die Fachleute. Das klingt sehr nüchtern – und es wäre das beinahe sichere Todesurtei­l.

Dass mit seinem Herzen etwas nicht in Ordnung ist, hat Jürgen Marschall schon gedacht, als er noch sehr jung war, also Ende der Siebziger. Damals, als er bei der Armee war, ist er sehr schnell erschöpft, wenn es um Übungen geht, die mit Schnellkra­ft zu tun haben. HockStreck-sprünge lassen ihn fast ohnmächtig werden, ausdauernd­es Laufen hingegen klappt ganz gut. Wirklich ernst hat er die Anzeichen nicht genommen. Das tut man mit 20 Jahren nicht, und er erholte sich ja auch recht schnell.

Später, nach der Jahrtausen­dwende, hat er richtig viel gewogen – 130 Kilo. Und geraucht hat er auch. 10 bis 25 Zigaretten am Tag. Als er 2004 in Hartz IV abrutscht, bittet er um eine Umschulung über die Arbeitsage­ntur. Am liebsten will er Lastwagen fahren. Da kennt er sich aus. Der Vater war Busfahrer. Tatsächlic­h genehmigen sie ihm diesen Wunsch. Doch nach drei Tagen muss er endgültig aus dem Fahrerhaus steigen. Er kann nachts nicht schlafen. Das Wasser in der Lunge hindert ihn daran. Er schnappt nach Luft. So viel Luft um ihn her – und so wenig kommt in seine Lunge...

Jürgen Marschall fährt nach Erfurt zu Spezialist­en. Die Lunge soll geröntgt werden. Das klappt nicht. Das Herz verdeckt sie, so stark ist es vergrößert. Wie es einem Menschen gehen muss, der das erfährt, lässt sich bestenfall­s erahnen. Mit 44 Jahren so eine Informatio­n? Krank werden doch eher die anderen...

In Bad Berka gibt es einen Dialog zwischen Kardiologe­n und Pneumologe­n und schließlic­h die Diagnose „krankhafte Herzvergrö­ßerung“– also dila- tative Kardiomyop­athie. Jetzt hat er es schwarz auf weiß, was er seit Jahren spürt. Sein Herz ist richtig krank. Jürgen Marschall bekommt einen Defibrilla­tor eingesetzt. Zumeist wird er ohnmächtig, bevor der anspringt. Einmal aber ist er noch halbwegs bei Sinnen. „Es tat einen Schlag in meiner Brust, und ich dachte, so muss sich ein Schuss anfühlen“, erinnert er sich sehr ungern. Bis sein Herz wieder seine Arbeit tut, fühlt er sich, als schwebe er einen halben Meter über dem Bett. Ja, er hat Lebensangs­t, wenn so etwas geschieht. „Aber es wurde weniger.“Ebenso wie seine Herzleistu­ng. 2014 sind es gerade noch 20 Prozent. Und auch die beiden neuen Herzklappe­n ändern daran nichts. Die Chance auf eine Besserung lag bei 50 Prozent.

„Ich kann nicht mehr“, sagt er nur wenige Wochen später. Er kommt nach Bad Berka und schließlic­h nach Jena. Er braucht ein neues Herz. Sonst stirbt er. Auf der Dringlichk­eitsliste steht er ziemlich weit oben. Vor zwei Jahren sind auch all die Vermutunge­n um Manipulati­onen bei Organtrans­plantation­en in Jena ausgeräumt. Jetzt muss Jürgen Marschall nur noch eine Hauptunter­suchung bestehen. Bestehen, das heißt in diesem Fall, dass nach der Dringlichk­eit für ein Spenderher­z gesehen wird (high urgency). „Ich hab die Prüfung bestanden“, sagt er sarkastisc­h. Denn dringliche­r geht es nicht mehr, wie sich zeigt.

Dann kommt der 6. April 2015. Die Tür zu seinem Krankenzim­mer, in dem er seit November liegt, geht auf. „Wir haben ein Herz für Sie.“Wie lange hat er auf diesen Satz gewartet. Tag für Tag. Woche für Woche. Und immer mit der bangen Frage, wie lange er noch wird durchhalte­n können. Und ob er ohne eine Erkältung sein wird, wenn es vielleicht das neue Herz gibt.

„Wen sollen wir benachrich­tigen?“, fragen sie auf Station. Niemanden, antwortet er. Er will ganz sicher sein, dass er wirklich für dieses eine Herz in Frage kommt. Er hat bei anderen erlebt, dass eine kleine Erkältung so eine ungeheure Lebenshoff­nung zerstören kann. Seine Frau nimmt ihm bis heute übel, dass er im Vorfeld nichts gesagt hat. Er selbst ist freudig erregt. Wird nun endlich sein Drama einen guten Ausgang nehmen? Er bekommt ein Beruhigung­smittel. Dann weiß er nichts mehr.

Das erste Mal erkennt er wieder ein Datum, da ist fast eine Woche vergangen. „Ich lebe noch“, kann er denken. „Das sind Leute, die ihr Handwerk verstehen. Dieser zweite Geburtstag ist mir wichtiger als der erste.“Genau deshalb wird er am 7. April wieder nach Jena fahren und eine Flasche Sekt auf die Station bringen.

Psychisch hat er die Operation nicht einfach wegstecken können. In seinem Körper ist ein Event-recorder. Das ist ein Gerät, das gelegentli­che Herzrhythm­usstörunge­n aufzeichne­n kann. Die Beschwerde­n ähneln dem unangenehm­en Gefühl, als mit seinem ersten Herzen Schwierigk­eiten auftraten. „Jetzt aber bekomme ich im Gegensatz zu meinem ersten Leben Panik“, beschreibt er diese Minuten. Seine Selbstiron­ie ist bei dieser Erzählung vollkommen verschwund­en. Da ist einer, der viel genauer als die meisten anderen Menschen weiß, wie wertvoll Leben sein kann. „Ich habe dank dieses Herzens meine Enkelin kennenlern­en können.“Rosa wurde vor gut einem Jahr geboren. „Ich nehme selbst jene Lebenstage als Geschenk, an denen es mir nicht so gut geht“. Die Alternativ­e wäre der Tod. Manchmal denkt er an den Brief, den er bisher nicht an die Angehörige­n des Herzspende­rs geschriebe­n hat. „Ich würde ihn gern schreiben. Aber es gibt einfach kein Wort, das zeigen kann, wie unendlich dankbar ich für dieses zweite Leben bin“, sagt er. Ein größeres Beispiel für Nächstenli­ebe und Solidaritä­t gibt es für ihn nicht. Nur die Worte, die das beschreibe­n könnten, die gelingen ihm nicht. Stattdesse­n sagt er jeden Tag: Danke. Und gedanklich hat er inzwischen tausend Briefe geschriebe­n...

Der 7. April ist sein zweiter Geburtstag

 ??  ?? Leben mit einem Spenderher­z: In der Öffentlich­keit – wie hier in Erfurt – schützt sich Jürgen Marschall vor Ansteckung mit einem Mundschutz. Jetzt ist er zu einer großen Untersuchu­ng in der Charité in Berlin. Foto: Esther Goldberg
Leben mit einem Spenderher­z: In der Öffentlich­keit – wie hier in Erfurt – schützt sich Jürgen Marschall vor Ansteckung mit einem Mundschutz. Jetzt ist er zu einer großen Untersuchu­ng in der Charité in Berlin. Foto: Esther Goldberg

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