Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Ein Nestor am Dirigentenpult als Retter aus der Not
Mit 82 ist der Weimarer Peter Gülke als Chef der Brandenburger Symphoniker angetreten – und muss wohl noch weiter verlängern
WEIMAR. Nächste Woche dirigiert Peter Gülke ein Jugendkonzert in Brandenburg an der Havel. Das macht er gern: Tänze von Dvorák und Brahms und „Young Persons‘ Guide“von Britten natürlich. Nicht etwa, weil es ihm eine Pflicht wäre. Denn vorigen Sommer hat der Nestor des Weimarer Musiklebens mit 82 Jahren noch einmal einen Chefvertrag unterschrieben. Und war „seinem“Orchester, den Brandenburger Symphonikern, ein Retter in äußerster Not.
Das Theater in der malerischen Kleinstadt stand kurz vor der Insolvenz und sein Klangkörper mit 51 Musikern – das einzige Ensemble des Hauses – führungslos und knapp vor der Abwicklung. Gülke erzählt das eher von fern und am Rande, aber Geschäftsführer Klaus Deschner, der mit 74 ebenfalls als Graulocken-engel einsprang, findet deutliche Worte: Die Stadt Brandenburg müsse ein Haushalts kon soli die rungs konzept umsetzen, das Theater sei mit 3,5 Millionen Euro ein erheblicher Kostenfaktor. Und wäre als Gmbh im Zweifelsfall ein billiges Opfer gewesen.
Gülke betrachtet sich nur als Übergangslösung
Dass der Existenzkampf inzwischen glücklich ausging und man mit einem Finanzierungsvertrag zwischen Land und Kommune für die nächsten zehn Jahre im Trockenen ist, ist sicherlich beiden zu danken. „Wir profitieren von seinem Renommee“, sagt Deschner über den „Herrn Professor“. „Ich bin sehr, sehr, sehr zufrieden.“Die beiden verstehen sich gut. Streit hat es nur anfangs gegeben, als der Kaufmann vakante Orchesterstellen nicht nachbesetzen wollte und der Musiker naturgemäß dagegen rebellierte.
Zwar betrachtet Gülke sich in dieser Position nur als Übergangslösung, bis man nach dem Abschied des langjährigen Amtsvorgängers Michael Helmrath – heute GMD in Nordhausen – einen Jüngeren gefunden habe. Doch Deschner will „in aller Ruhe“suchen und macht keine Mördergrube aus seinem Herzen: „Ich hoffe, dass Herr Gülke uns noch ziemlich lange erhalten bleibt.“Er wird wohl demnächst auch noch für die kommende Spielzeit unterschreiben müssen.
Dabei ist der gebürtige Weimarer weiß Gott kein Spätberufener. Als junger Mann war er schon Chef in Potsdam und Stralsund, avancierte dann über den noblen Umweg Dresden 1981 zum Generalmusikdirektor der Staatskapelle in seiner Vaterstadt, bevor er 1983, weil‘s partout anders nicht ging, aus der DDR nach Westdeutschland „rübermachte“und zehn Jahre lang als GMD das Theater Wuppertal in heute kaum vorstellbare Glanzzeiten führte. Von Händel über Wagners „Ring“bis hin zum Zeitgenössischen hat Peter Gülke alles dirigiert, was man sich denken kann.
Und weil er zeitlebens auch als Musikwissenschaftler aktiv war und ein ganzes Regalbrett mit verständlichen Fachbüchern füllte, fügte er danach eine Professur an der Musikhochschule in Freiburg dem Lebenswerk bei. 2014, längst Emeritus, wurde er für diesen Dreiklang als Musiker, Wissenschaftler und Pädagoge mit dem Ernst von Siemens-musikpreis geehrt, der, mit einer Viertelmillion Euro dotiert, gleichsam als „Nobelpreis der Musik“gilt.
Aufs Altenteil zog sich Gülke dennoch nicht zurück. Das Schreiben hat er nie aufgegeben – gerade habe er einen Mendelssohn-essay in Arbeit –, und im Dirigentenforum des Deutschen Musikrats gab er aus seinem so üppigen Schatz Erfahrungen an Jüngere weiter. In dieser Funktion als Mentor und Lehrer künftiger Pult-stars hat er das Brandenburger Orchester kennengelernt – und aus dem von dessen Musikern hingeflachsten Vorschlag, ob er sie nicht auch mal als Gast dirigieren wolle, wurde unversehens existenzieller Ernst: Bald nach dem Gastauftritt und einem überraschenden Abschied von Helmrath musste Gülke als Übergangs-chef herhalten. „Ich habe drei Mal ,Nein‘ gesagt“, beteuert er heute. Doch es gab keine Wahl. Trotzdem hat er sich vorgenommen, „dass ich der Erste bin, der zu der Einsicht kommt, dass irgendwann Schluss sein muss.“In ein paar Wochen feiert Gülke den 83. und hat dann ein höheres Alter erreicht als ehedem Goethe, mit dessen Schwager Vulpius er in direkter Linie verwandt ist. Bei Dirigenten indes denkt man an betagte Pult-philosophen wie Sergiu Celibidache in München, Günter Wand in Hamburg oder an den Leipziger Herbert Blomstedt.
Unter den aktiven Chefs indes ist Peter Gülke, soweit wir es eruieren konnten, in ganz Deutschland der älteste. Selbst die Deutsche Orchestervereinigung, die über die 130 Klang- körper im Lande einen guten Überblick hat, verweist nur auf Blomstedt. Doch managt der 89-jährige Schwede in Leipzig bloß den Übergang von Chailly zu Nelssons und firmiert nicht offiziell als Gewandhauskapellmeister. „Der Dirigentenberuf ist offenbar einer, der eine gewisse Langlebigkeit garantiert“, kommentiert Peter Gülke trocken.
Mit seinen Brandenburgern hat er inzwischen einiges an anspruchsvoller Literatur aufgeführt: Nielsens Vierte, Mahlers „Lied von der Erde“, die Vierte von Bruckner. Ende des Monats steht Brahms auf dem Programm. Er lobt die prägende Arbeit seines Vorgängers und das Orchester, „das zu den schlechtestbezahlten gehört und trotzdem ein erstaunliches Qualitätsbewusstsein besitzt“. Das Publikum liebt ihn. Deschner verrät, dass die Havelstädter sich schon zu den Einführungen vor jedem Konzert drängeln, weil der Musik-polyhistor und erfahrene -Interpret sich die selbstredend nicht nehmen lasse. Und demnächst wird man die meisten der acht Abo-konzerte nicht wie bisher einmal, sondern gar zweimal wiederholen.
Ist er in seinem Element, so setzt Gülke die Maßstäbe. Von wegen Routine! „Man fängt ja immer ein bisschen von vorne an. Das ist ein Privileg“, erklärt er. „Bestimmte Tempofragen überlege ich mir immer wieder neu.“Zum Beispiel in Schuberts großer C-dur-sinfonie, die im Sommer bevorsteht. Ob er im Alter bei der Arbeit mit dem Orchester milder und gelassener geworden sei? – Eine Laufbahn habe er nicht mehr im Sinn, und ein erfahrener Dirigent wisse besser, wo er eingreifen müsse, entgegnet der Professor aus Weimar. „Aber das Feuer für die Musik brennt immer!“Da schenkt er nichts.
Das unverhoffte Amt empfindet Gülke „wie ein Stück zusätzlich geschenktes Leben – musikalisch gesprochen: eine Coda“. Schließlich ist in seinen Augen, über Musik zu schreiben und zu reden, nur das Drittbeste, das Musikhören stehe an zweiter Stelle, und am besten sei immer: das -machen. Da ist nicht den Brandenburgern allein klar, dass so einer gebraucht wird – und wenn er will, für die nächsten zehn Jahre.
Ältester amtierender Chefdirigent in Deutschland