Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Hysterische Zeiten
Über die Inflation des Wortes „historisch“
Er wisse sehr wohl, schrieb Arthur Schopenhauer, „daß jeder denkende Mensch seine Zeit für die allererbärmlichste hält: aber ichmußgestehen,daß ich von der Illusion nicht frei bin“. Der Philosoph gab sich, nebenbei, auch der Illusion hin, sich für den „Thronerben Kants“zu halten, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Wir wollen vielmehr darauf hinaus, dass wir Heutigen unsere Zeit ganz und gar nicht als die „allererbärmlichste“verstehen. Im Gegentum, unsere Zeit ist historisch! Ach was, unsere Zeit ist schlicht und ergreifend die historischste Zeit aller Zeiten. Zwar ist Zeit, wenn sie nur erst vorbei ist, immer historisch, aber das macht nichts. Das Wort „historisch“geht um im Lande, ist in jeder Munde, steht in jeder Zeitung. Es kommt in jeder besseren Festrede vor, jedem Jubiläum wird es umgeschnallt wie ein Wanderrucksack, keine Mehrzweckhalle, kein Autohaus kann mehr eröffnet werden, ohne dass es als historisches Ereignis gepriesen wird.
War das Jahr 2016 am Ende schon ein historisches, so ist es das Jahr 2017 noch viel mehr – und ist noch nicht einmal zur Hälfteum.
Der Brexit ist ein historisches Ereignis, die Wahl von Donald Trump war es und der Tod von Fidel Castro auch. Es ist historisch, wenn sich die Kultusminister der Bundesländer endlich auf ein Förderprogramm für begabte Kinder einigen, und es ist historisch, wenn Reinhold Messner auf dem Südtiroler KronplatzGipfel ein Bergmuseum einweiht. Wenn der FC Bayern München zum wer weiß wievielten Male hintereinander deutscher Fußballmeister geworden ist, ist das ein ebenso historisches Ereignis wie wenn die SPD drei Landtagswahlen hintereinander vergeigt. Die breaking news überschlagen sich.
Ist das auch Irrsinn, so hat es doch Methode. Jeder Händedruck zweier Staatspräsidenten wird zum historischen Ereignis stilisiert, und wenn Donald Trump Angela Merkel mal nicht die Hand gibt, dann erst recht. Der Berliner Tagesspiegel brachte es kürzlich auf den Punkt: Die allgemeine Lage ist historisch! Oder hysterisch?
Dabei war das früher mal so ein gemütliches Wort. Historie – das klang nach der gut abgelagerten Tiefe der Zeit, nach Bedenkzeit und Ruhe. Es wurde sparsam gebraucht und bedeutete: zwar lange her, aber folgenreich und gewichtig. Heute meint es eher den flüchtigen Augenblick, das Vorüberhuschen eines Moments. Das Historische erlebt nämlich eine Inflation, und wir können sagen, wir sind dabei gewesen.
Und wir können das sogar beweisen, denn wir haben natürlich mit unserem Handy ein Selfie davon gemacht: Ich – Aug‘ in Aug‘ mit der Geschichte.