Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Religionskritik auf dem Donnerbalken
Bad Hersfelder Festspiele: Dieter Wedel gelingt mit „Luther – Der Anschlag“eine Aufführung, aber kein Theaterstück
BAD HERSFELD. Das war nicht nur naheliegend. Das passte – und das ist diesem Stück sehr immanent – wie der berühmte Arsch auf den Eimer.
Wenn sich Bad Hersfelds Festspiele bereits in der 67. Saison, sowie der dritten unter Dieter Wedel, in der Ruine einer Stiftskirche ereignen und sich die ehemalige Klosteranlage doch wenigstens gut hinzu imaginieren lässt, dann ist der Ort ja längst bereitet für eine Aufführung zum Reformationsjahr. Es braucht nur ein neues (leuchtendes) Kreuz im Altarraum und eine neue Kanzel.
Und schon sind wir allzeit am richtigen Ort: im Erfurter Augustinerkloster und in jenem, dem Schwarzen, zu Wittenberg, auch in der dortigen Schlosskirche und, wenn’s sein muss, im Petersdom zu Rom.
Braucht’s also nur noch „das große klassische Luther-drama“, das es jedoch nicht gibt, wie auch Wedel auffiel. Und außerdem schreibt er: „Einfach sein Leben nachzuerzählen, würde kaum ausreichen, um herauszufinden, wer er eigentlich war.“
Herausgefunden hat der Intendant und Regisseur – und Autor: Luther, das sind viele und mindestens vier. Gelebt haben sie zusammen aber nur ein Leben, das nachzuerzählen Wedel dann doch irgendwie nicht umhin kam. Es ist auffällig, dass fast keine Bühne es mit ihrem Lutherbeitrag – egal welcher Gattung – schafft, sich von der Biografie zu lösen. Dafür aber löst Wedel die Widersprüche der Figur auf, derart, dass er aus verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen verschiedene Personen macht: der Selbstbewusste, der Zweifelnde, Reformator und Wutbürger. Letzterer, im Grunde ideal besetzt, kam ihm abhanden: Er kündigte Paulus Manker kurz vor der Premiere aufgrund erheblicher Differenzen – und beiderseitiger Wutausbrüche.
Manker, der die Festspiele nun verklagen will, schickte hinterher, als sei er noch ganz in seiner Rolle: Wedels Stück habe „die Brisanz von warmer Hundepisse“. Das hätte Luther nicht schöner sagen können, der für derbe Ausdrücke und klare Fäkalsprache doch sehr bekannt geworden war.
Und auch das alles passt ins Hersfelder (Bühnen-)bild wie der, wie gesagt, Arsch auf den Eimer: weil der eine, nun ja, tragende Rolle spielt.
„Ich leide an Verstopfung“, klagt Luther und hält sich den Wanst. „Es heißt, er leidet an Magenverstimmung – Durchfall“, raunt man daher beim, huch, Heiligen Stuhl.
Und Luthers Hämorrhoiden kommen auch vor: „Gott hat mich am Hintern wieder mit großen Schmerzen geschlagen!“Dergleichen muss vor allem der leidensfähige Schauspieler Christian Nickel auf sich nehmen, der den Reformator ohnehin gab und nun auch den Wutbürger.
Dass Luthers Hartleibigkeit sich nicht allein in ideologisch-theologischen Dingen zeigte, ist historisch verbürgt. Den psychosomatischen Zusammenhang stellte John Osborne im „Luther“-drama von 1961 her, das Dieter Wedel ebenso verwendet wie John von Düffels von 2016.
Für den dreistündigen Abend indes lässt sich sagen, dass Luthers meteorologisch forcierter Geistesblitz von Stotternheim weniger Bedeutung zukommt als dem Donnerbalken. Und sagen lässt sich auch, was die Teufelin (Corinna Pohlmann) befindet, die als Lady in Rot Luthers ständige Begleiterin ist: „Du verschwendest zu viel Aufmerksamkeit auf die eigene Not!“Die Aufführung leidet sehr an Verstopfung.
Wedel will viel, viel zu viel. Was ihm gelingt: die Stiftsruine als Bühne zu bespielen und sein Stück darauf zu arrangieren, mit parallelen und mit sich überschneidenden, mit kammerspielartigen und Massenszenen.
Die Tageslosung dafür meldet „Tagesschau“-sprecher Jan Hofer auf der Videowand: „Die verhängnisvolle Flamme des religiösen Wahns ist noch immer nicht erloschen!“Also versucht Wedel, über diese Wand Zeitbezüge zu Fanatismus, Aufruhr, Krieg, von NS bis IS herzustellen.
Die Inszenierung ist auf scharfe Luther-kritik aus: am Juden- und Moslem-feind, am Schriftverbrenner (obwohl auch Luther-schriften Feuer fingen), selbst am Erfinder deutscher Sprache: „Vorbei ist für Jahrzehnte, für Jahrhunderte, vielleicht sogar für immer die Zeit übernationaler Gemeinschaft“, so die Reporterin Mareile Höppner. „Das Latein, diese letzte Sprache des geeinten Europas, stirbt ab.“Das stammt aus Stefan Zweigs Erasmus-buch.
Ein Stück wird aus all dem nicht. Aber ein paar gute Szenen: insbesondere die Dispute Luthers mit dem Papst-emissär Cajetan (Robert Joseph Bartl) und Reformator Karlstadt (Christian Schmidt) erzeugen maximale dramatische Spannung.
Derweil bleibt für Elisabeth Lanz als Katharina von Bora nicht mehr als ein emotionaler Zusammenbruch in drei Abteilungen, Claude-oliver Rudolph hat einen einzigen, ihm gemäßen lustigen Satz und ist ansonsten eine sprechende Säule. Erol Sanders Leo X. trägt ein päpstliches Jagdkostüm spazieren (gemäß Osborne). Uwe Dag Berlin als Cranach und Benjamin Kramme als Melanchthon gehen in der Masse meistens unter.
Eklat um Paulus Manker kurz vor der Premiere