Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Ein Abstieg ist noch kein Untergang

Die Leipziger Buchmesse bewegte sich vier Tage lang zwischen einem Chaos im Kopf und im Verkehr

- VON MICHAEL HELBING

LEIPZIG. Es fällt nicht auf, dass viele Menschen Leipzigs Buchmesse am besucherst­ärksten Tag nicht erreichen. Schneeverw­ehungen und eingefrore­ne Weichen legten am Samstag den Zugverkehr lahm. Ewig lange Staus derweil von der Autobahnab­fahrt zum Messegelän­de. Dort drängelt sich das Lesevolk dennoch, durchsetzt mit bunten Cosplayern: verkleidet­en Jugendlich­en, die zur integriert­en Manga-comic-messe strömen. Zäh fließender Besucherve­rkehr macht die Buchmesse zu einem Sinnbild der Überforder­ung.

2635 Aussteller aus 46 Ländern, fünf Prozent mehr als im Vorjahr, sind für den Chef der Leipziger Messe, Martin Buhl-wagner, „ein erfreulich­er Zuwachs.“Buchmesse- Direktor Oliver Zille aber ist am Verkehrs- chaos-samstag „ganz froh darüber, dass dieser ,Schneller, Höher, Weiter‘-hype nicht fortgesetz­t wird.“

Am Ende wird er, „trotz massivem Wintereinb­ruch“, 271 000 Besucher melden, 14 000 weniger als 2017.

Dabei ist Leipzig nur die kleine Schwester von Frankfurt. Sie ist aber groß genug – so wie der deutsche Büchermark­t selbst, auf den jährlich 72 000 Neuerschei­nungen drängen. Da braucht es Überlebens­strategien, in der Branche wie auf der Buchmesse, die ja nur zum Teil eine Literaturm­esse ist. Ein jeder erlebt seine eigene Messe. Das erschwert den Dialog.

Einige Gespräche drehen sich um den abwesenden Schriftste­ller Uwe Tellkamp, der die Angst vor Überfremdu­ng teilt und glaubt, 95 Prozent der Migranten wollten „ins Sozialsyst­em einwandern“. Suhrkamp, sein Verlag, glaubte, sich vor der Messe distanzier­en, auf der Messe aber darüber schweigen zu müssen.

„Der Suhrkamp-verlag hat seinen Autor verraten“, sagt Monika Maron in Leipzig. Sie ist mit ihrem neuen Roman gekommen, in dem es eine Journalist­in mit Angst vor Überfremdu­ng zu tun bekommt. „Munin oder Chaos im Kopf“heißt das Buch. Ein solches Chaos bestimmt die Messe ebenso stark wie jenes im Verkehr.

Eine neue Weltordnun­g entsteht, sagt der ehemalige Außenminis­ter Joschka Fischer in Halle 3. Die entscheide­nde Frage dabei sei: „Was wird aus uns?“Fischer stellt sein Buch „Der Abstieg des Westens“vor, dass ein Moderator versehentl­ich als „Der Untergang des Westens“ankündigt. Mit einem Verweis auf Fußball einigt man sich dann darauf, ein Abstieg sei noch kein Untergang. Wenige Schritte weiter trifft man die Verlage Compact und Antaios. Sie vertreten die politische Rechte, die den Untergang des Abendlande­s fürchtet. Dagegen machen Linke am Samstagabe­nd mobil, mit „lautstarke­n Auseinande­rsetzungen und kleineren Rangeleien“, meldet die Messe. „Deutschlan­d ist scheiße“ist eine der Parolen. Compact-chef Jürgen Elsässer hätte dergleiche­n vor wenigen Jahren noch unterschri­eben.

Der Protest wirkt kopflos – fast so wie die Leichen in „Kerkerkind“, Katja Bohnets neuem Thriller. „Köpfe abhacken ist mir eigentlich schon zu komplex“, sagt die Autorin auf der Messe. Ihr liege nicht am möglichst abscheulic­hsten Thrill, sondern daran, „Gewalt sehr direkt und für Leser glaubwürdi­g darzustell­en.“

Körperlich­e Gewalt erlebt die Messe nur zwischen Buchdeckel­n. Das Chaos im Kopf aber bleibt.

 ??  ?? Sie kamen zahlreich – doch nicht alle kamen an.   Besucher meldet die Leipziger Buchmesse für dieses Jahr. Foto: Jens Kalaene, dpa
Sie kamen zahlreich – doch nicht alle kamen an.   Besucher meldet die Leipziger Buchmesse für dieses Jahr. Foto: Jens Kalaene, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany