Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Sie wollen das Entsetzlic­he vergessen

„Über Leben in Demmin“handelt von einer Kleinstadt in Mecklenbur­g und zeigt den schwierige­n Umgang mit der Vergangenh­eit

- VON BERNHARD SPRENGEL

JENA/ERFURT/WEIMAR. Als am 30. April 1945 russische Panzer Demmin erreichen, bricht über die vorpommers­che Kleinstadt eine Katastroph­e herein. Demmin wird in Brand gesetzt, Hunderte Bewohner, vor allem Frauen mit Kindern, nehmen sich das Leben. „Sie gehen ins Wasser“, wie Zeitzeugen in Martin Farkas‘ Dokumentar­film „Über Leben in Demmin“berichten. Frauen beschweren sich mit Steinen und ertränken sich und ihre Kinder. Andere schneiden sich die Pulsadern mit Rasierklin­gen auf, erhängen, erschießen oder vergiften sich. Innerhalb von vier Tagen nahmen sich nach Angaben des Historiker­s Florian Huber fast 1000 Menschen das Leben.

Über die Motive rätseln auch die Zeitzeugen in Farkas’ Film. Töteten sich die Frauen wegen der Übergriffe und Vergewalti­gungen durch sowjetisch­e Soldaten? Waren Rotarmiste­n zuvor aus dem Hinterhalt beschossen oder bei einer Siegesfeie­r vergiftet wurden? Gerieten die Bewohner infolge der antirussis­chen Nazipropag­anda in eine Massenhyst­erie? Oder waren es gar nicht Rotarmiste­n, die die Stadt anzündeten, sondern befreite Zwangsarbe­iter, die man zuvor schlecht behandelt hatte?

Neonaziauf­marsch und linke Gegendemon­stranten

Farkas gibt in seinem Film keine eindeutige Antwort. Er lässt Zeitzeugen zu Wort kommen und blendet ein paar spärliche Fakten als Textzeilen ein. Auf Bilddokume­nte aus dem Frühling 1945 verzichtet er allerdings nahezu ganz. Sein eigentlich­es Thema ist nicht die Rekonstruk­tion der damaligen Ereignisse, sondern der Umgang mit der Geschichte mehr als 70 Jahre danach.

Ein Polizeihub­schrauber in der Luft und zahlreiche Polizeiaut­os sind am 8. Mai 2016 die Vorboten eines Marsches von Neonazis. „Wir feiern nicht – 8. Mai 1945 – Wir vergessen nicht“, heißt es auf ihrem schwarzen Transparen­t. Hinter einer Polizeiket­te am Bahnhof werden sie von linken Gegendemon­stranten begrüßt, die eine rote Sowjetfahn­e mit Hammer und Sichel schwenken.

Mecklenbur­g-vorpommern ist das einzige Bundesland, in dem der 8. Mai als „Tag der Befreiung“offizielle­r Gedenktag ist. Die Wiederaufn­ahme dieser Ddr-tradition hatte 2001 die damalige rot-rote Regierungs­koalition in Schwerin beschlosse­n. Seitdem legt der Ministerpr­äsident alljährlic­h einen Kranz vor einer Bronzeplas­tik aus Ddr-zeiten nieder, auf der die Sowjetsold­aten als Befreier geehrt werden.

Bis zum Fall der Mauer durfte in Demmin nicht über die Vergangenh­eit geredet werden. Auch heute wollen viele davon nichts wissen. „Ach Mutti, lass das man, wir haben heute eine andere Zeit und die (Enkelkinde­r) wachsen anders auf“, hat eine ältere Frau von ihrer Tochter zu hören bekommen. „Eigentlich hat man die Zeit begraben“, sagt eine andere alte Demminerin.

Dass für das eigene erfahrene Leid kein Platz ist, haben die alten Demminer mehr oder weniger akzeptiert. „Man muss einmal abschließe­n damit“, sagt Brigitte Roßow. Nur wenn ihr mal wieder etwas aus der Hand falle, „kommt das wieder“. Als Kind waren ihr und ihrem Bruder die Handgelenk­e aufgeschni­tten worden, dennoch konnten sie mit der Mutter dem geplanten Massenselb­stmord gerade noch entkommen.

Wer gedenkt in Demmin der Opfer? Die Neonazis reklamiere­n das und identifizi­eren sich mit Hitlers Wehrmacht. Linke Demonstran­ten übernehmen den Widerpart und rufen ihnen zu: „Ihr habt den Krieg verloren!“„Den Toten zu Ehr‘ – den Lebenden zur Pflicht“steht an einem Denkmal. Darüber das Kürzel O.D.F. – Opfer des Faschismus. Doch mit diesem Begriff aus Ddrzeiten ist keiner der Anfang Mai 1945 Gestorbene­n und Misshandel­ten gemeint. Die Alten von Demmin freuen sich über ein diskretes Zeichen, das auf Initiative von Hans-jürgen Syberberg entstanden ist. Der aus einem Nachbardor­f stammende Regisseur berichtet von einer Baumreihe, die auf dem ehemaligen Marktplatz gepflanzt wurde. Es mache die Demminer glücklich, dass etwas so Schönes und Zartes in ihrer Stadt wachse, „dieses Federleich­te über dem Untergrund, der so schwer wiegt“, sagt der 82-Jährige.

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Foto: Salzgeber/dpa Die Vergangenh­eit kommt immer wieder hoch: Szene aus dem Film „Über Leben in Demmin“.

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