Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Über Physik

- VON JOE LITTLE

Bill hat sich ein Hobby zugelegt und eine Fotokamera gekauft. Gebraucht natürlich. So ein altertümli­ches Spiegelref­lexMonstru­m, das Filme belichtet. „Na und!“wischt er Dicks Einwände, das könne heutzutage jedes chinesisch­e Smartfon besser, lässig beiseite. „Mir geht‘s doch nicht um diese dämliche Selfieknip­serei. Ich hab‘s lieber, wenn ich mit dem Apparat fotografie­re – nicht umgekehrt.“

Dick lässt das nicht gelten. All die eklige Fotochemie im Labor, das Entwickeln und Abziehen und der ganze Quatsch, den eh niemand mehr richtig beherrsche. Dagegen sei‘s unendlich bequemer, elektronis­che Bilddateie­n am Rechner aufzumöbel­n – praktisch automatisc­h. Eben das, behauptet Bill, wolle er nicht. Sondern ihm sei es angelegen, den Prozess vom Motiv bis zum Bild auf allen Ebenen beeinfluss­en zu können – womöglich gar künstleris­ch. Dann hebt er sogar kurz ab und fängt an zu schwärmen: dass er mal eine Ausstellun­g mit Polaroids von einem Uskünstler namens Cy Twombly in Altenburg angeschaut habe und ganz fasziniert gewesen sei, was dieser Kerl in der abstrakten Fotografie zu leisten vermöge.

„Abstrakt?“fragt Dick, während wir unser Abendessen futtern. „Mit Fotos ist‘s doch wie mit den Steaks: Die sind immer konkret und ganz physisch.“Bevor Bill erwidern kann, mischt Jack sich ein in die Debatte. Unser Alter wittert die Chance auf einen seiner gefürchtet­en Vorträge. „Im Altgriechi­schen heißt photograph­ieren immerhin wörtlich: mit Licht zeichnen. Das haben die Leute heute völlig vergessen. Und zeichnen kann man immer auch abstrakt.“Jack erklärt nun, dass es auf die Perspektiv­e ankomme, und alle Physik sei halt eine implizite Voraussetz­ung dafür. Zum Beispiel, dass wir Farben nur aufgrund unterschie­dlicher Lichtwelle­nlängen innerhalb des für uns sichtbaren Spektrums wahrnähmen, dass Holzdorf dagegen für unseren Hauskater ziemlich grau aussähe und dass jedes Insekt mit seinen Facettenau­gen ganz anders in die Welt hinausguck­e als wir. „Neinnein“, wehrt Bill ab. „Ist mir alles zu theoretisc­h. Ich möcht‘ als erstes versuchen, ein paar wirklich schöne Naturmotiv­e abzulichte­n. Gern auch mit Menschen. Physik ist mir bloß Mittel zum Zweck.“– „Ach?“fragt da Mona, die Kellnerin, die unversehen­s hinter Bill steht. „Dann suchste noch ein Modell?“Dick, Jack und mir klappt die Kinnlade runter, weil Monas durchschei­nende Bluse im Gegenlicht allerreizv­ollste Konturen zu erkennen gibt. „Daran hatte ich auch gedacht ...“, stammelt Bill. Mona streicht ihm wie zufällig übers Haar und sagt: „Es ist ja nicht immer Physik, wenn‘s mal prickelt.“Bill nimmt Farbe an, wir sind total neidisch. Er hat Gänsehaut am ganzen Körper.

Mit Mona hat keiner von uns gerechnet

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