Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Schule bereitet Kinder auf Verschiedenheit vor
Kerstin Lüder und Katrin Hellmann diskutierten gemeinsam, was notwendig ist, damit Inklusion in der Schule gelingen kann
Als wir die Bitte erhielten, uns in einer Pro- und Kontra-diskussion mit dieser These auseinander zu setzen, wurde uns schnell klar, dass das für uns so nicht geht. Statt der Frage „Muss Inklusion in Schule sein?“kann es nur um die Debatte „Wie kann Inklusion gelingen?“gehen.
350 Schüler der Jahrgänge 1 bis 10 tummeln sich auf unserem Schulhof – deutsche, irakische, syrische, polnische Kinder und Jugendliche aus etwa 13 Nationen, sehr intelligente Kinder, auch Kinder mit Gutachten im Lernen, in der emotionalen und sozialen Entwicklung, Brillenträger, Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen, auch fleißige und faule…
Unsere Schule ist genau so vielfältig wie unsere Gesellschaft. Wer gehört dann nicht hierher? Wer sollte an einer anderen Schule lernen? Gerade an „anstrengenden“Tagen, in denen „verhaltensoriginelle“Schüler uns an unsere Grenze bringen, gibt es die Diskussionen auch in unserem Kollegium.
Begrenzt man das Thema Inklusion auf die „enge“Definition der Integration behinderter Menschen, sind die Argumente dafür und dagegen schnell gefunden. Die Frage, die bleibt, ist, wo setzt man die Grenze, wer mit den gesellschaftlich festgelegten „Normalen“lernen darf?
Brillenträger sind kein Thema mehr, Rollstuhlfahrer ebenso. Anders sieht es bei den „Dummen“ und „Verhaltensgestörten“aus. Obwohl diese Begriffe in der Wissenschaft schon längst nicht mehr verwendet werden, sind sie im Alltag noch gängige Zuschreibungen.
Der weite Begriff der Inklusion schließt neben den Menschen mit Behinderungen zum Beispiel auch sexuelle Ausrichtung und religiöse Zugehörigkeit ein. Die Diskussion sollte sich darum nicht nur im Kontext Schule abspielen, sie ist eine gesellschaftliche Diskussion, die geführt werden müsste.
Sicher ist der Grundgedanke der Inklusion, also die Akzeptanz aller Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter, Religion, Bildung und Behinderung sowie deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ein erstrebenswertes Ziel, allerdings ist deren Umsetzung – insbesondere mit Blick auf das Bildungssystem – nicht unkritisch zu sehen.
Thüringen hat sich mit dem „Thüringer Entwicklungsplan zur Umsetzung der Un-konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Art. 7 und 24) bis 2020“auf den Weg gemacht und ein Konzept entwickelt, mit dem in den nächsten Jahren die Förderschulen weiter zurückgefahren werden sollen.
Dabei werden gerade in den Förderschulen meist Kinder entsprechend ihrer Besonderheiten von Fachkräften gefördert. Kleine Klassen, gute räumliche Bedingungen und didaktische und methodische Materialien bieten gute Voraussetzungen für individuelles Eingehen. Katrin Hellmann ist ausgebildete Gymnasiallehrerin. Kerstin Lüder ist ausgebildete Grund- und Förderschullehrerin.
Natürlich darf es nicht sein, dass Kinder in Förderschulen unterrichtet werden, weil Eltern aus sozial schwachen bzw. bildungsfernen Familien kommen.
Ganz anders sieht es in den Grund-, Regel-, Gemeinschaftsschulen und Gymnasien aus.
Schon in der Grundschule arbeiten die Pädagogen mit Kindern, die bei der Einschulung große Entwicklungsunterschiede aufweisen. Die Kollegen bemühen sich nach Kräften, den Unterricht so zu gestalten, dass sich alle Schüler weiterentwickeln können.
Das ist nicht einfach. Klassen mit über 20 Kindern, teilweise in Altersmischung, stellen Pädagogen jeden Tag vor Herausforderungen.
Oft fehlen Differenzierungsräume und Personal, um individuell auf jeden einzugehen.
Nicht vergessen werden darf auch der Anteil Kinder, die im sozialen Miteinander Schwierigkeiten haben. Aktuell sind in den Schulen Sonderpädagogen aus Förderschulen im gemeinsamen Unterricht unterwegs und unterstützen. So weit unsere Kontra-argumente.
Die wohnortnahe Beschulung im sozialen Umfeld, kurze Wege zur Schule und die Freunde vor der Haustür sind einschlägige Pro-faktoren. Außerdem lernen die Kinder gemeinsam, so werden soziale Kompetenzen ausgebildet. Der Umgang mit Verschiedenartigkeit, gegenseitige Achtung und Respekt sind wichtige menschliche Eigenschaften, die man nur lernen kann, wenn man Erfahrungen damit sammelt. Segregierende Systeme, wie sie in Deutschland üblich sind, erschweren eine echte Vorbereitung auf eine inklusive Gesellschaft. Schwierig erscheint unter dem Gesichtspunkt auch, dass Schulbildung meist auch eine ökonomische und schichtspezifische Komponente hat.
Am Gymnasium lernt man Fachwissen, an der Förderschule handlungsorientiertes Praxiswissen, vielleicht sogar aus dem gleichen Fachgebiet. Aber brauchen nicht beide Gruppen beides? Ein gutes inklusives System lebt von unterschiedlichen Professionen. Förderschulpädagogen, Erzieher, Gymnasiallehrer, Integrationshelfer, Grundschullehrer, Realschullehrer sind an unserer Schule schon Alltag. Deutlich wird schon jetzt, dass diese Professionen allen Kindern helfen können.
Schule ist der Ort, der die Kinder auf eine Zukunft der Verschiedenheit vorbereitet.
Eine inklusive Schule auf hohem Niveau braucht Bedingungen, die es zulassen, dass Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Begabungen und Lernniveaus, unterschiedlicher Herkunftsgruppen und unterschiedlicher Zukunftsideen, gemeinsam lernen und ihre Kompetenzen so gut wie möglich entwickeln können. Sie braucht eine „inklusionsbereite“Gesellschaft, damit die Aufgabe und die Funktion von Schule neben Fachvermittlung auch andere wichtige Bereiche vorurteilsbewusst zulässt. ● ● ● ● ●