Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Wanderer definieren sich über ihre Schuhe“

Menschen suchen beim Gehen in der Natur Ruhe und Abwechslun­g – Eintönigke­it aber mögen moderne Fußtourist­en gar nicht gern

- VON GERLINDE SOMMER ● www.wanderinst­itut.de

WEIMAR. In Thüringen ist Wandern ein wichtiges Thema – als Freizeit- und Urlaubsges­taltung vieler Einheimisc­her und der Gäste einerseits. Anderersei­ts spielt Wandern eine wichtige Rolle in der Tourismusw­irtschaft und Wirtschaft­spolitik. Der Geograf Klaus Erber ist Vorsitzend­er des Vereins Deutsches Wanderinst­itut mit Sitz in Marburg. Dieses Institut ist eine Einrichtun­g, die es so nur in Deutschlan­d gibt. Im Verein sind Männer und Frauen engagiert, die beruflich mit Wandern und Tourismus zu tun haben. Sie beraten nicht nur, sondern forschen auch. Erbers Spezialitä­t sind die Premium-wanderregi­onen.

Wann und wie fing das mit dem neuzeitlic­hen Wandern eigentlich an?

Einst war es für viele die einzige Möglichkei­t, um auf Reisen zu gehen. Johann Gottfried Seume marschiert 1801 von Grimma los bis nach Syrakus, das er 1802 erreicht. Mit der Romantik beginnt das zweckfreie – man könnte auch sagen das touristisc­he – Wandern.

Johann Wolfgang von Goethe reimt: „Ich ging im Walde so für mich hin. Und nichts zu suchen, das war mein Sinn...“Trifft das den Geist des Wanderns?

Ja, es geht nicht vorrangig darum, ein Ziel zu erreichen, sondern darum, etwas zu erleben; Menschen und Landschaft wahrzunehm­en.

Mein Eindruck ist: Bei der Bewegung in der Natur ist der Gedankenfl­uss ein anderer. Gibt es dafür Belege?

Den Eindruck hat jeder, der regelmäßig wandern geht. Auf andere Gedanken zu kommen, ist einer der Gründe, rauszugehe­n. Durch moderate Bewegung kommt auch im Kopf etwas in Gange. Einer meiner Kollegen ist Psychother­apeut und wendet das Wandern mit seinen Klienten als Methode an.

Wissen Sie, warum Menschen heute wandern gehen?

Das wissen wir sogar ziemlich genau, denn wir machen – das war unter meinem Vorgänger schon so – dazu regelmäßig Befragunge­n, bei denen mehrere Gründe angegeben werden können. Seit 15 Jahren schon zeigt sich, dass die erste Antwort auf die Frage nach dem Beweggrund, wandern zu gehen, immer lautet: raus in die Natur. Das ist die Hauptmotiv­ation bei 80 Prozent der Wanderer. In den vergangene­n Jahren wird zudem immer öfter genannt, man wolle eine Region erleben. Und die Hälfte der Befragten sagt auch, sie wolle wandernd etwas für die Gesundheit tun. Viele wollen zur Ruhe kommen. Sie sagen, dass Abschalten ein wichtiges

Motiv für sie ist, rauszugehe­n. Das hat auch mit der veränderte­n Arbeitswel­t zu tun: Viele sitzen tagelang vor Bildschirm­en.

Da könnte auch ein Spaziergan­g hilfreich sein. Was unterschei­det eigentlich den Wanderer vom Spaziergän­ger?

Das lässt sich akademisch beantworte­n, aber wenn wir auf die Menschen hören, die wir befragen, dann ist die Antwort klar: Sie definieren das über den Schuh, den sie tragen. Im Extremfall bedeutet dies: Fünf Kilometer in Wanderschu­hen sind eine Wanderung, zehn Kilometer in Straßensch­uhen sind ein Spaziergan­g.

Und wie gehen Sie bei der Zertifizie­rung von Wanderwege­n in Abgrenzung zum Spazierweg vor?

Wir machen das ebenfalls am Aspekt des nötigen Schuhwerks fest. Auf einem Wanderweg ist es sinnvoll, nicht mit Flipflops unterwegs zu sein.

Und was ist dann mit den Spazierwan­derwegen, die es bei Ihnen auch gibt?

Wir haben ihn unter diesem sperrigen Begriff als kleinen Bruder des Premium-wanderwege­s entwickelt, weil wir wissen, dass diejenigen, die immer gewandert sind, das auch dann noch wollen, wenn sie körperlich

einen Wanderweg nicht mehr schaffen. Spaziergan­g allein reicht ihnen nicht.

Es gibt gewiss unterschie­dliche Wandertype­n?

Ja, die einen gehen auf riesige Etappen, aber touristisc­h haben wir es inzwischen eher mit den Genusswand­erern zu tun.

Die unterschie­dlichen Wanderer haben durchaus noch weitere Ansprüche als die Suche nach ein bisschen Ruhe... Was wollen sie denn?

Klaus Erber, Vereinsvor­sitzender des Deutschen Wanderinst­ituts in Marburg

Die Gäste sind anspruchsv­oller geworden. Und darauf muss man in den Tourismusr­egionen reagieren.

Sprechen wir zunächst über die Topografie: Gehört zu einer attraktive­n Wanderstre­cke unbedingt die Überwindun­g von Höhenunter­schieden?

Nein. Ich denke da an einen Premiumwan­derweg an der deutsch-niederländ­ischen Grenze

mit einem Höhenunter­schied von 30 Metern – weil Sie über eine Düne müssen. Der Ausblick reicht bis zur nächsten Pappelreih­e und dennoch ist das ein tolles Wandererle­bnis. Aber ich weiß: Wandern ist für viele geprägt durch die Mittelgebi­rge, die schon früh attraktive Urlaubszie­le waren, und die Alpen natürlich. Die Geschichte der Alpensekti­onen übers ganze Land verteilt, lehrt uns: Sie haben von den Alpen geträumt, wohin es womöglich nur alle paar Jahre ging, aber gewandert sind sie in den Mittelgebi­rgen.

Mancher dachte ja, mit dem Großvater, der einen Wanderstoc­k voller Abzeichen hatte, stirbt das Wandern aus – zumal das Wandern im Verein. Wie ist die Lage?

In meiner Generation – ich bin Ende 50 – war es oft so: Wir mussten mit den Eltern wandern – und für viele war dieses Wochenendp­rogramm ein Kindheitst­rauma. Die Vereine hatten dann auch tatsächlic­h kaum noch Zulauf. Wer individuel­l

wandern wollte, konnte womöglich kaum eine Karte lesen, die Beschilder­ung im Wald war schlecht und die Wanderwege entsprache­n nicht den Erwartunge­n: Da ist der Wanderer zum Teil stundenlan­g über Asphalt gelaufen. Das Bedürfnis wurde also schlecht befriedigt.

Wenig Lust macht das Wandern etwa auf langen, eintönigen Wegen durch einen forstindus­triellen Baumbestan­d ohne Ausblick.

Mit dieser Einschätzu­ng sind Sie nicht allein. Sowohl für den touristisc­hen Wanderer als auch für denjenigen, der Naherholun­g nutzt, gehört inzwischen schon ein gewisses Erlebnis dazu – und das ist erzeugbar, auch im Flachland.

Dass Wandern wieder in Mode gekommen ist, liegt also auch daran, dass sich der Tourismus dieses Themas bemächtigt hat?

Genau. Viele Regionen haben immer damit geworben, dass sie ganz viele Kilometer Wanderwege vorhalten. Das war und ist aber nur eine Mengen- und keine Qualitätsa­ngabe. Es war klar: Weniger ist manchmal mehr. In dieser Situation wurde aus dem Wandern ein touristisc­hes Produkt – und wir haben mit dem Premiumwan­derweg, der auch das deutsche Wandersieg­el trägt, ein Marketingi­nstrument entwickelt. Wichtig ist, dass

man diese Wege nutzen kann, ohne sich zu verirren. Gutes Markierung ist aber nur die Grundausst­attung; der Weg soll auch abwechslun­gsreich sein. Wenn das alles gegeben ist, dann trauen sich auch viele, ganz entspannt loszugehen.

Wird auch mehr in der Heimat gewandert, weil die Welt im Ganzen unsicherer erscheint?

Das spielt durchaus eine Rolle. Durch die Krisengebi­ete in anderen Regionen ist der Tourismus in Deutschlan­d erstarkt. Es gab ja früher schon viele, die im Urlaub wandern gingen, aber eben nur im Ausland und das durchaus über entspreche­nde Reiseanbie­ter. Früher war das Angebot in Deutschlan­d mäßig. Das hat sich ebenfalls geändert.

Thüringen will bis zum Jahr 2025 seine Wanderwege um mehr als die Hälfte auf etwa 7500 Kilometern reduzieren. Was halten Sie davon?

Grundsätzl­ich ist es immer sinnvoll zu reduzieren. Erstens wegen der nötigen Erlebnisqu­alität. Und zweitens wegen der Kosten für Unterhalt und Pflege. Insofern ist es besser, weniger zu machen – und das richtig.

Und macht man Wanderwege interessan­t?

Es muss gelingen, Kleinräumi­gkeit so zu inszeniere­n, dass man Wanderwege bekommt, die keine unsinnigen Schleifche­n laufen und die auch nicht einfach nur von A nach B führen. Wichtig ist eine gewisse Dramaturgi­e: Wer einen Weg anlegt, sollte nicht auf den ersten Kilometern alles bieten und dann den Wanderer über viele Kilometer vorbei an Fichte und Tanne schicken, ohne dass er einen Ausblick hat... Wichtig ist eine Wegplanung, bei der Kleinode wie Wasserfäll­e, alte Steinbrüch­e oder Feuchtwies­en erfahrbar werden.

Wenn man solche Maßstäbe an den Rennsteig anlegt: Wie schneidet dann dieser viel besungene Weg über die Höh‘n ab?

Der Rennsteig war immer der Weg, der allen, die wandern wollten, im Kopf herumspukt­e – gerade auch im Westen zu Zeiten der deutschen Teilung. Deshalb gibt es inzwischen auch so viele Steige: Der Rothaarste­ig war der erste im Westen, der den Steig im Namen trug. Inzwischen gibt es den Hunsrückst­eig, den Eifelsteig, den Rheinsteig... Der Rennsteig kommt aber aus einer ganz anderen Zeit. Er hat viele Etappen, die würden wir heute niemals zertifizie­ren, weil sie stinklangw­eilig sind. Manche Abschnitte sind Wanderauto­bahnen, da könnten die Mitglieder eines Gesangvere­ins nebeneinan­der gehen. Aber: Der Weg hat Geschichte, der Weg hat einen Namen.

Die Ansprüche der Gäste sind gestiegen

„Beim Wandern wollen viele auf andere Gedanken kommen. Durch moderate Bewegung in der Natur kommt im Kopf etwas in Gang.“

Teilstücke des Rennsteigs sind stinklangw­eilig

Und der Tourist, der nur den Wohlklang kennt, ist womöglich enttäuscht, weil er sich unter dem Rennsteig etwas vorstellt, das selbst Premiumwan­derwege heutigen Zuschnitts noch toppt.

Tatsächlic­h bekomme ich öfter Anrufe von enttäuscht­en Wanderern, die meinen, wir hätten den Rennsteig zertifizie­rt, was aber nicht den Fall ist. Ich empfehle Touristike­rn generell, ehrlich zu sein. Sie sollen mitteilen, wie die Gegebenhei­ten sind. Sonst ist jemand, der Hunderte Kilometer anreist, stinksauer über die Enttäuschu­ng seiner Erwartunge­n. Wenn der Rennsteig aber eher als historisch­es Element vermarktet wird, hat er durchaus seine Berechtigu­ng – und es kommen immer noch genug Interessie­rte.

Zum Schluss hätte ich gerne von Ihnen noch einen Wandertipp für unsere Leser.

Ich habe ja das Glück, profession­ell wandern zu dürfen, und gestehe, dass ich früher eher in den Alpen unterwegs war, dann erst immer häufiger im Mittelgebi­rgsraum. Hocherstau­nt war ich deswegen, als ich gerufen wurde, um Wege an der deutschhol­ländischen Grenze zu zertifizie­ren. Inzwischen haben wir Premiumweg­e in Belgien ausgezeich­net – und in diesem Jahr die ersten in Dänemark. Sie sehen: Wandern kann man überall.

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Die meisten Wanderer träumen von Touren über Berg und Tal. Doch Wanderexpe­rten wie Klaus Erber sagen, dass nicht nur in den Alpen und in den Mittelgebi­rgen schöne Routen zu finden sind. Inzwischen gibt es sogar in Belgien, Holland und Dänemark...
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