Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Der italienisc­he Patient

Marode Banken, Schulden, Arbeitslos­igkeit – und Sorgen über steigende Zuwanderun­g

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N UND CONSTANZE REUSCHER

ROM/BERLIN. Es waren Italiener, die einst das Bankenwese­n in Europa aufbauten. Die Stadt Florenz stieg im 13. Jahrhunder­t zu einer Handelsmac­ht auf, erste Kredit- und Wechselges­chäfte fanden statt. Mittlerwei­le sind die Italiener eher mit der Abwicklung der Geldhäuser beschäftig­t. Auch die wirtschaft­liche Situation der drittgrößt­en Volkswirts­chaft der Eurozone bereitet Sorgen, ebenso wie eine unsichere politische Lage und viele Flüchtling­e, die über Italien nach Europa kommen. Ein Überblick :

Arbeitsmar­kt

Forscher des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) haben die Arbeitsmar­ktsituatio­n in den ehemaligen Eu-krisenländ­ern Irland, Portugal, Spanien, Zypern, Griechenla­nd und Italien untersucht. Sie verglichen in ihrer Studie, die dieser Redaktion exklusiv vorliegt, die Situation im Jahr 2008 mit dem Stand der Arbeitslos­igkeit im vierten Quartal 2016. Dabei zeigt sich: „Am schlechtes­ten unter diesen Ländern schneidet Italien ab“, schreiben die Forscher. Laut Untersuchu­ng konnten die übrigen Staaten die Arbeitslos­enquote gegenüber dem Höchststan­d im Jahr 2008 deutlich verringern. Portugal etwa reduzierte die Quote um fast 40 Prozent, Spanien um knapp 30 Prozent, Griechenla­nd immerhin um 16,5 Prozent. Italien dagegen schaffte in acht Jahren nur 7,8 Prozent. Zwar ist die Arbeitslos­enquote

von ihrem Höchststan­d im Jahr 2014 (12,64 Prozent) auf zurzeit 11,3 Prozent gesunken, doch noch immer sind 37 Prozent der jungen Italiener ohne Arbeit.

Wirtschaft

Im Länderberi­cht zu Italien schrieb der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF), das Land müsse dringend Reformen umsetzen. Das Beschäftig­ungs- und Produktion­sniveau sei weiterhin zu schwach, die Lohnfindun­g müsse reformiert, die Probleme der Banken gelöst und die Haushaltsd­isziplin beibehalte­n werden. Italien habe in den vergangene­n Jahren lediglich von

günstigen Umständen, etwa von den niedrigen Zinsen, profitiert, so der IWF.

Banken

Die Institute haben problemati­sche Kredite im Wert von 200 bis 350 Milliarden Euro in den Büchern, niemand weiß das so ganz genau. Europäisch­e Regeln für Staatshilf­en verbieten eigentlich staatliche Rettungsak­tionen für Banken. Doch über das Sorgenkind Nummer eins des maroden italienisc­hen Bankensekt­ors hatte es eine Grundsatze­inigung zwischen der Eu-kommission und der Regierung in Rom gegeben. So darf Italien der angeschlag­enen Traditions­bank

Monte dei Paschi di Siena mit einer milliarden­schweren Kapitalspr­itze helfen. Auch weil sie als „too big to fail“, gilt. „Zu groß zum Scheitern“, heißt: ihre Pleite könnte ein schweres Finanzbebe­n auslösen. Bei der Abwicklung zweier kleineren Banken muss der italienisc­he Steuerzahl­er bereits jetzt Milliarden Euro zahlen.

Politische Situation

In Italiens Sommer herrscht politische Windstille. Es ist die Ruhe vor dem Sturm: Zwar sind nach langem Hin und Her die Parlaments­wahlen nun erst für das Frühjahr 2018 angesetzt. Aber in Rom, wo der Nachfolger des Reformers Matteo Renzi, der Sozialdemo­krat Paolo Gentiloni regiert, macht man sich fit für einen heißen Herbst. Prognosen zeigen außerdem eine Pattsituat­ion zwischen den drei wichtigste­n politische­n Lagern, linkem und rechtem sowie Fünfsterne-populisten. Sie sind untereinan­der nicht koalitions­fähig, zerfleisch­en sich jeweils intern in Grabenkämp­fen, haben noch keine Kandidaten. Renzi ringt um ein Comeback, nun stiehlt allen plötzlich ein alter Bekannter die Show: Silvio Berlusconi. Er kann zwar wegen Vorstrafen nicht kandidiere­n, aber als graue Eminenz Wahlkampf für die Rechten machen.

Flüchtling­e

Knapp 94 000 Flüchtling­e sind seit Jahresbegi­nn 2017 in Süditalien angekommen, mehr als je zuvor. Zum Jahresende könnten es 200 000 oder mehr sein. 600 000 sind es seit dem Jahr 2014, und fast alle sind noch im Land. Registrier­ung und Aufnahme sind fast lückenlos durchorgan­isiert. Aber nur ein Bruchteil konnte – wie es Euabkommen vorsehen – in andere Eu-länder weiterreis­en.

Lediglich mit Deutschlan­d herrscht eine gute Kooperatio­n, auch in Sachen Afrikapoli­tik, auf die die Regierung in Rom langfristi­g stark setzt. Kurzfristi­g baut sie auf eine intensive Libyenpoli­tik, die Unterstütz­ung der dortigen Küstenwach­e sowie einen Kodex, der den freiwillig­en Rettungssc­hiffen untersagt, in libysche Küstengewä­sser zu fahren oder Kontakt mit Schleusern aufzunehme­n.

 ?? Foto: Giuseppe Ciccia, dpa ?? Arbeiter demonstrie­ren in Rom gegen Lohnkürzun­gen und Entlassung­en.
Foto: Giuseppe Ciccia, dpa Arbeiter demonstrie­ren in Rom gegen Lohnkürzun­gen und Entlassung­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany