Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Biermann, der Zeiss-despot
Dietmar Remy bringt die erste Biografie über den mächtigen Jenaer Generaldirektor heraus und beschreibt ihn als umstrittenen Charakter
Mitte 1989 herrscht in Jena Damen-slip-mangel. Kein Geschäft bietet derlei Waren an. Zeiss-generaldirektor Wolfgang Biermann, der sich als Vertreter der kleinen Leute fühlt, organisiert kurzerhand für die Mitarbeiterinnen seines Kombinats 20 000 Baumwollschlüpfer. Die Bückware stammt aus dem VEB Untertrikotagen „Artiseda“in Limbach-oberfrohna und wird auf dem Betriebsgelände verkauft. Doch selbst ein hohes Tier wie Biermann – er ist immerhin Mitglied des Zentralkomitees der SED – muss für diese Aktion tricksen. So lässt er unter anderem die Slips als Überplanproduktion deklarieren, damit man sie nicht dem Einzelhandel überlassen muss.
Der Zeiss-chef gibt sich gern bürgernah. Er gefällt sich in der Rolle des fürsorglichen Patriarchen. Doch ebenso gut knechtet und tyrannisiert er seine Unter- gebenen. Vor allem die Führungskräfte haben unter ihm zu leiden, wie Dietmar Remy in seinem Buch „Zeiss-generaldirektor Wolfgang Biermann“schildert. Sein 540-seitiges Werk ist nicht nur die erste Biografie über den Jenaer Betriebsführer, sondern zugleich der erste umfassende Lebensabriss eines Kombinatsleiters aus der DDR. Seit zehn Jahren beschäftigt sich der 52-jährige Autor sporadisch mit dem Thema und hat dafür zwischen 3 000 und 4 000 Stasiakten gewälzt. „Zeiss war jedoch kein Stasiopfer“, sagt Remy. „Gegen ihn lief kein operativer Vorgang.“Bei den Dokumenten handle es sich um sogenannte Sachakten über das Zeiss-kombinat. Neben den Stasi-berichten diente dem Historiker vor allem das Carl-zeissarchiv in Jena als Hauptquelle.
Über Biermann kursieren bis heute zahlreiche Geschichten. So soll er eines Sonntagmorgens die Betriebsdirektoren in sein Büro in den 14. Stock bestellt haben. Zuvor sorgte er jedoch dafür, dass die Fahrstühle nicht funktionierten. Diejenigen, die abgehetzt zu spät kamen, belehrte er gereizt, man habe immer mit technischen Pannen zu rechnen. Da diese Anekdote im Gegensatz zur Schlüpfer-episode nicht schriftlich belegt ist, fand sie keinen Eingang ins Buch. Historiker Remy legt Wert auf belastbare Quellen. Doch auch so bietet Despot Biermann genug Stoff.
Seinen Charakter offenbart er bereits 1962, als er noch techni- Leiter in Berlin ist. In einem Streit mit einem Mitarbeiter über Büro-ordner bekommt er einen seiner berüchtigten Wutausbrüche, dass selbst der Werksdirektor herbeieilt. Der Eklat führt letztlich zu einem Parteiverfahren nebst Strafversetzung.
Das tut seiner Karriere jedoch keinen Abbruch. Bevor er das Jenaer Zeiss-kombinat übernimmt, wechselt er mehr als zehnmal den Betrieb und avanciert so zur Allzweckwaffe in der Hauptstadt. Nachdem er das Berliner Werkzeugmaschinenkombinat „7. Oktober“von 1969 bis 1975 überaus erfolgreich geleitet hat, kommt die Parteispitze an ihm nicht vorbei, als es darum geht, den Posten des Zeiss-chefs neu zu besetzen.
Die Sed-obersten sehen in Biermann den geeigneten Mann, der in Jena endlich für Ordnung sorgen kann. Er soll den Kontrollverlust, der unter den Vorgängern entstanden ist, beenden. Wolfgang Biermann nimmt den Posten an, glaubt aber, dass es sich um eine Zwischenstation handelt, die ihn früher oder später zurück nach Berlin führen wird. Weit gefehlt. Der umstrittene Manager leitet das mit 63000 Mitarbeitern zweitgrößte Kombinat der DDR bis zur Wende. Ursprünglich stammt Wolfgang Biermann aus Leipzig. Der Vater war Buchdrucker, die Mutter Angestellte bei der Stadt. 1944, im Alter von 17 Jahren, wird er Oberjungzugführer beim Jungvolk und tritt der NSDAP bei. Kurz vor Kriegsende wird er Soldat und gerät kurzzeitig in britische Kriegsgefangenschaft. Nach Maschinenschlosser-lehscher re und Maschinenbau-studium beginnt Mitte der 1950er-jahre sein kometenhafter Aufstieg. „Biermann war zweimal verheiratet“, sagt Dietmar Remy. Aus jeder Ehe entstamme jeweils ein Sohn. Wobei sich sein Privatleben wohl auf ein Minimum beschränkt haben dürfte angesichts seines Arbeitspensums von zwölf bis 16 Stunden. Den Einsatz, den er sich selbst zumutet, verlangt er allerdings auch seinen Untergebenen ab.
Als er 1975 nach Jena kommt, erlebt Zeiss einen Aufschwung. Vor allem die Multispektralkamera bringt internationales Renommee ein. Doch spätestens Anfang der 1980er-jahre verlässt das Kombinat die Erfolgsspur. Immer mehr entfernt man sich vom eigentlichen Kerngeschäft, dem wissenschaftlichen Gerätebau.
Stattdessen wird Zeiss ein Zentrum für die Ddr-rüstungsindustrie und steckt viel Geld und Energie in die Entwicklung eines Ddr-eigenen Mikrochips. Zwei Fehlentscheidungen, die sich rächen. Denn mit Gorbatschows Perestroika-politik fällt plötzlich die Sowjetunion als wichtiger Abnehmer weg. „Ganze Rüstungssparten mussten daraufhin eingestellt werden“, sagt Dietmar Remy. „Und auch der Chip geht nie in Serie.“Obendrein habe der Export ins sogenannte nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet lediglich zehn Prozent ausgemacht.
Parallel zu Biermanns Leben schildert der 52-jährige Historiker auch die ostdeutsche Firmengeschichte von Zeiss, beginnend mit Biermanns beiden Vorgängern bis zum Ende der DDR.
Der Autor Dietmar Remy stammt vom Niederrhein. Nach seinem Geschichtsstudium war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Uni Jena.
Belastbare Quellen statt kursierender Gerüchte
Für Privatleben blieb damals kaum Zeit