Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
„Deutschland, das sind wir alle“
Kanzlerin Merkel zeigt sich zu Beginn ihrer vierten Amtszeit selbstkritisch und mahnt zu Zusammenhalt
BERLIN. Es ist eine demokratische Tradition: Zu Beginn jeder Amtszeit stellt der Bundeskanzler in einer Rede vor dem Bundestag die wichtigsten Weichenstellungen der neuen Regierung vor. Danach folgt eine Aussprache der Fraktionen, die Generaldebatte. Cdu-chefin Angela Merkel trat am Mittwochmittag bereits zum vierten Mal vor den Bundestag, um eine Regierungserklärung zu halten.
Größtes Ziel: Zusammenhalt 2014 saß die Kanzlerin bei ihrer Regierungserklärung noch, sie hatte sich zuvor beim Langlauf verletzt. Diesmal ging Merkel rasch zum Rednerpult: Reden zu halten gehört nicht zu ihren großen Stärken, ihre Rhetorik ist oft ausbaufähig. Doch diesmal hat sie sich einiges vorgenommen. Die 171 Tage Regierungsbildung – so lange hat es in Deutschland noch nie gedauert –, „schon diese Umstände deuten darauf hin, dass sich im Land etwas verändert hat“, sagte die Kanzlerin. Obwohl Deutschland wirtschaftlich gut dastehe, „ist der Ton der Auseinandersetzung rauer geworden“. Wie zum Beweis mangelte es an hämischen Zwischenrufen der AFD während ihrer Rede nicht. Die Gesellschaft sei so sehr polarisiert, stellte Merkel fest, dass ein so banaler Satz wie „Wir schaffen das“, den sie zuvor schon häufig gesagt habe, im Herbst 2015 zum Kristallisationspunkt der Flüchtlingsdebatte geworden sei. Diese Verunsicherung hätten auch die Koalitionsparteien bei der Bundestagswahl im September letzten Jahres zu spüren bekommen. Klar sei, dass die Vorzeichen der Flüchtlingskrise, der Bürgerkrieg in Syrien, völlig unterschätzt worden sei. „Zur ganzen Wahrheit gehört, dass wir, auch ich, zu lange zu halbherzig reagiert haben.“Die Hoffnung, dass der Krieg in Syrien Europa und Deutschland nicht berühre, sei „falsch und naiv“gewesen.
Die wichtigste Botschaft Merkel trat in ihrer Rede auch indirekt Spekulationen entgegen, wonach sie vorzeitig aus dem Amt scheiden könnte: „Inzwischen kennen Sie mich: Ich werde jeden Tag von morgens bis abends arbeiten“. Sie wolle alles dafür tun, dass am Ende dieser Legislaturperiode die Menschen sagen: „Die in Berlin haben aus dem Wahlergebnis von September 2017 etwas gelernt. Die haben wirklich etwas verstanden und viel Konkretes und Gutes für uns erreicht.“Sie hoffe, dass am Ende dieser Legislaturperiode die Bilanz gezogen werde: „Unsere Gesellschaft ist menschlicher geworden, Spaltungen und Polarisierung konnten verringert, vielleicht sogar überwunden werden, und Zusammenhalt ist neu gewachsen.“ Die Außenpolitik
Merkel kritisierte Russland und den Nato-partner Türkei mit Blick auf Syrien ungewöhnlich deutlich: Die Bundesregierung verurteile die Angriffe in Ostghuta „auf das Schärfste“, sagte sie. Auch das türkische Vorgehen gegen Kurden in der syrischen Region Afrin sei inakzeptabel. „Auch das verurteilen wir auf das Schärfste.“
Die Kabinettsdisziplin
Auf der Regierungsbank gab es vor der Rede einen intensiven Austausch zwischen dem neuen Bundesinnenminister, CSUCHEF Horst Seehofer, und der Kanzlerin. Doch in der Rede machte die Cdu-vorsitzende deutlich, wer im Kabinett die Deutungshoheit hat: Merkel bekräftigte, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Viele hätten damit Schwierigkeiten, und das sei ihr gutes Recht. Die
Bundesregierung habe aber
die Verantwortung, dass der Zusammenhalt in Deutschland größer und nicht kleiner werde. Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus hätten demgemäß „in unserem Rechtsstaat keinen Platz“. Seehofer hatte kurz nach Amtsantritt gesagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.
Der Kernsatz
Merkel formulierte einen Appell für mehr Zutrauen an die Bevölkerung. „Ich bin überzeugt: Deutschland kann es schaffen“und zitierte damit aus ihrer ersten Regierungserklärung aus dem Jahr 2005. Sie fügte – auch mit Blick auf Seehofer– hinzu: „Deutschland, das sind wir alle.“
Die Antwort der Opposition Afd-fraktionschef Alexander Gauland eröffnete als erster Redner die Generalaussprache. Er hätte sich mehr Pathos oder Tiefgang gewünscht. „Aber Sie haben das erste Mal wieder von Deutschen gesprochen. Das ist der Erfolg der AFD.“FDP-CHEF Christian Lindner griff Merkel massiv an: Helmut Kohl habe sich in 16 Jahren als Kanzler „um dieses Land und Europa verdient gemacht“. Ob man 2021 ähnlich auf Merkels 16 Jahre zurückblicken werde, das müsse die Zeit erst einmal zeigen, stellte Linder fest. Merkel tippte ungerührt auf ihrem Handy herum. Einen Seitenhieb hatte der Chef der Liberalen noch parat: Die Jamaika-gespräche mit Union und Grünen hätten ihn geradezu traumatisiert. Grünen-fraktionschef Anton Hofreiter merkte lakonisch an: Man habe Lindners Rede „angemerkt, dass Sie Ihr Trauma noch nicht überwunden haben“.