Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Rot-rot-grüne Strategie: Nicht dafür, nicht dagegen
Vor allem Thüringen nutzt diese Papiere, um bei unliebsamen Entscheidungen auf Bundesebene die Position zu verdeutlichen, aber nicht mitzustimmen
BERLIN/ERFURT. Immer wieder in den vergangenen Monaten haben Vertreter der Thüringer Landesregierung auf „Protokollerklärungen“verwiesen, die sie abgegeben hatten, wenn Vertreter der deutschen Bundesländer sich irgendwo getroffen hatten, um sich über dieses oder jenes zu verständigen. Nie aber hatten sie eine so lange Protokollerklärung abgegeben wie am 9. Februar 2017, als es auf einer Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) um Asyl- und Flüchtlingspolitik ging. Insgesamt 15 Punkte umfasst die Notiz; was auch bedeutet: Sie ist etwa 700 Wörter, fast 6000 Zeichen lang. Ziemlich viel Text, um eigentlich nur eine Botschaft zu senden: Mit dem, worauf sich die Länder und der Bund da verständigt haben, sind wir in weiten Teilen überhaupt nicht einverstanden.
Unter anderem sieht diese Einigung vor, die Möglichkeiten zur Abschiebehaft für ausreisepflichtige Ausländer zu erweitern. In der Protokollnotiz, die Thüringen dazu abgegeben hat, heißt es dagegen: „Eine Verschärfung des Asylrechts und des Leistungsrechts ist (...) kein geeigneter Ansatz zur erfolgreichen Lösung der vor uns liegenden Herausforderungen.“
Drei Erklärungen mit anderen Bundesländern
Und eben weil Thüringen bislang noch nie eine so lange Protokollnotiz wie Anfang Februar abgegeben hatte, eignet sich dieses Papier so gut, um zu erkennen, wie strategisch Rot-RotGrün seit seiner Machtübernahme in Thüringen im Dezember 2014 dieses politische Werkzeug einsetzt. Immer dann, wenn sich der Freistaat auf der bundespolitischen Bühne bewegt. Eben vor allem auf MPKs, auf denen die Regierungschefs der Länder regelmäßig zusammenkommen, um eine möglichst gemeinsame Verhandlungsposition gegenüber dem Bund festzulegen.
Immer wieder ermöglichen solche Protokollnotizen es der Linke-SPD-Grüne-Landesregierung nämlich, einerseits nicht gegen die Mehrheit der anderen Länder stimmen zu müssen – und damit die Einigkeit unter den Ländern nicht zu gefährden, die nach Angaben des Regierungssprechers von Mecklenburg-Vorpommern, Andreas Timm, in der Regel bei allen Abstimmungen auf einer MPK angestrebt wird. MecklenburgVorpommern hat aktuell den Vorsitz dieser Konferenz inne. Deshalb hat Thüringen auch trotz seiner langen Protokollerklärung vom Februar nicht gegen die Einigung gestimmt.
Andererseits aber erlauben solche Protokollnotizen es den Spitzen des rot-rot-grünen Bündnisses, ihren eigenen Leuten im Freistaat und auch in den anderen Teilen Deutschlands zu sagen: „Wir waren ja dagegen! Und wir haben unsere Meinung nicht verheimlicht!“
Freilich sind Protokollnotizen damit auch ein Stück weit ein Ausdruck von inkonsequentem politischen Verhalten, auch wenn sie Timm sie als ein „übliches Instrument“im Rahmen der MPK bezeichnet, „um gemeinsame Beschlüsse zu ermöglichen“. Ähnlich, wie das auch Thüringens Regierungssprecher Günter Kolodziej tut. „Die MPK ist – jenseits von parteipolitischen Interessen – grundsätzlich auf eine Beschlussfassung im Konsens angelegt“, sagt Kolodziej. „Im Sinne der Solidarität und Geschlossenheit der Länder untereinander“habe der Freistaat deshalb zuletzt immer wieder gegen nicht gegen bestimmte Beschlüsse als Ganzes gestimmt, sondern seine abweichende Auffassung zu einzelnen Punkten in einer Protokollerklärung dokumentiert; eben auch in der Protokollnotiz vom Februar, in der Thüringen auch deutlich gemacht habe, dass es unter anderem diejenigen Punkte der Einigung begrüße, „die auf eine stärkere freiwillige Rückkehr von Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsländer zielen“. Trotzdem bleibt der Umgang mit diesen Notizen ein bisschen inkonsequent, weil gerade die Protokollerklärung vom Februar zeigt, dass das rotrot-grüne Thüringen selbst bei ganz grundsätzlicher Kritik an Beschlüssen der MPK nicht bereit ist, auf der bundespolitischen Bühne dann auch den letzten Schritt zu tun: als einziges Landes gegen einen MPKKompromiss zu stimmen. Das ist aber etwas, das sich vor allem in der Linken, viele vom Linksgeführten Thüringen erhofft hatten.
Andererseits freilich kann man diese Inkonsequenz auch als einen Ausdruck dafür begreifen, wie sehr die rot-rot-grüne Thüringer Koalition auf Bundesebene ständig einen Balanceakt vollführen muss: Die parteipolitischen Interessen der Koalitionspartner wollen ebenso gewahrt bleiben, wie das möglichst geschlossenes Auftreten der Länder gegenüber dem Bund. In zwei Zahlen wird das greifbar: Seit Anbeginn der rot-rot-grünen Ära in Thüringen hat der Freistaat nach Angaben von Kolodziej insgesamt 13 Protokollerklärungen bei MPKs abgegeben, davon drei gemeinsam mit anderen Bundesländern. Die Zahl der in einem vergleichbaren Zeitraum von der CDUSPD-Vorgängerregierung abgegeben Protokollerklärungen beziffert Kolodziej auf: Null.