Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
In großer Verwirrung
David Gieselmanns Glaubenskomödie „Ablass“ist Eisenachs Beitrag fürs Jugendtheater im Reformationsjahr
Immer wieder dieser Limonadenclip. Eine penetrante Werbeunterbrechung im Theater, die nervt, was sie auch soll. Darin preist Werner im Hawaiihemd flippig ein exotisches Gefühl von Freiheit an. Er ist ein Prediger des Konsums.
Sapor, der eigentlich Peter heißt, ist ein Prediger der Abkehr davon: Im spießigen Pullover schwafelt er vom Terror der Pseudo-Individualisierung, unter dem „wir alle uniformiert sind“. Er verspricht ein Gefühl von Gemeinschaft – mit Uniform.
„Sapor und Werner“, schreibt David Gieselmann, „können von einem Schauspieler gespielt werden.“Das müssen sie wohl auch, da Gregor Nöllen später auf der Eisenacher Bühne den einen zur Maske des anderen zu werden scheinen lässt.
Überhaupt mündet diese Komödie in großer Verwirrung, in der nicht mehr zu klären ist, wer auf welcher Seite steht, wer wem etwas vorspielt. Die Figuren, ohnehin chronisch in Identitätskrise befindlich, geraten noch umso stärker in sie hinein, je mehr sie dort heraus drängen.
„Es ist sehr schwierig“, findet Brigitte, die zu Brior wird, „in dieser Phase klar zu sehen.“Diese Phase, die Gieselmann hopsnimmt, ist eine, in der alle irgendwie recht haben und zugleich falsch liegen, weil sie bemüht sind, alles richtig und es allen recht zu machen. Es ist eine lange Phase ohne festen Standpunkt.
Vielleicht deshalb entwarf Ausstatterin Anke Niehammer eine nach allen Seiten recht offene Familienhauskonstruktion aus Aluminiumgestänge, in der nichts und niemand richtig dicht ist. Leben als Dauercamping: durchaus bereit, jederzeit die Zelte der Überzeugung abzubrechen.
Hier spielt sich David Gieselmanns intelligente, gut gebaute doppelbödige Komödie ab; Boris C. Motzki, der sie in seiner Uraufführungsregie in die Parodie treibt, beauftragte sie bei seinem Freund als Beitrag fürs Jugendtheater im Reformationsjahr. Deshalb heißt sie „Ablass“und hat ansonsten mit Luther nur in Anklängen etwas zu tun. Allerdings dringt hier eine Sekte als Halt versprechende Glaubensgemeinschaft in Familien ein, bekehrt sie mit sanftem Druck zu innerer Einkehr und verlangt, von der Welt draußen, nun ja, abzulassen. Ablasszahlungen treffen die noch Ungläubigen, die „Asynchronen“. Die Familien lassen zunächst einmal aber ab von nennenswertem Widerstand . . .
Sapor, Einzelgänger ohne Charisma und Überzeugungskraft, verschafft sich Zutritt zum Haus der Limonadenhersteller Klaus und Claudette sowie deren Kindern Ivan und Ivette. Über den vereinsamten Sohn gelangt er zu Macht über sie. Nur nicht über Yvette, die sich der Gehirnwäsche entzieht, aufklärerisch dagegen zu Felde zieht und lutherisch 9,5 Thesen dafür entwickelt. Möglicherweise aber ist die Rebellin nur eine Kontrollinstanz der Sekte.
Das zentrale Duell Sapor gegen Yvette ist in Eisenach fast ein Totalausfall, weil Gregor Nöllen und Ekaterina Ivanova einstudiert umeinander herumtänzeln und nie tun, was sie behaupten: einander gefährlich zu werden. Man sieht ihnen beim Absondern von Spitzen zu, leider nicht beim Denken und Kämpfen.
Roman Kimmich legt sich mit dem empfindungsarmen Ivan auf stoische Ausdruckslosigkeit fest, Yorck Hoßfeld parodiert Vater Klaus als willenlosen Trottel. Es sind, einmal mehr und nun zum letzten Mal, zwei Frauen, die den Abend nacheinander letztlich tragen, die die Bühne dominieren und das große Gefälle im kleinen Ensemble deutlich machen.
Jannike Schubert windet sich als Claudette in politischer Korrektheit, die von ihrem inneren Wesen ständig unterlaufen wird. Sie säuft sich ihre Versagensangst weg, probiert Haltungen, sie fällt hysterisch über einen Stuhl und knallt den Schädel gegen eine Stange, als sie keinen Ausweg aus dem und keine Luft mehr im Sektennetz findet. Es scheint mitunter, als spiele sie mit ihrer Palette aus kräftigen Farben des Komischen in einer anderen Inszenierung.
Dann übernimmt Dagmar Poppy, als neue Mutter Brior in einem Frauentauschsystem, und legt sofort eine große Nummer hin: in einer entnervten Tirade über „abgefuckte Teenager“, über ihren Hass auf und ihren Ekel vor pubertierenden Kindern. Da rumort’s lustig im großteils jugendlichen Premierenpublikum.
„Ablass“in Eisenach ist nicht, was uns die Stimme von Schauspielchef Motzki allabendlich wünscht: „ein unvergessliches Theaterlebnis“. Es ist aber ein Spaß für die ganze Familie – sofern sie über sich selbst lachen kann. Den kollektiven Abschied vor Augen, sorgt Motzkis letzte Eisenacher Inszenierung für das würdige Finale einer kleinen Komödiantentruppe, deren Möglichkeiten damit nun aber auch ausgereizt sind.