Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

In großer Verwirrung

David Gieselmann­s Glaubensko­mödie „Ablass“ist Eisenachs Beitrag fürs Jugendthea­ter im Reformatio­nsjahr

- VON MICHAEL HELBING

Immer wieder dieser Limonadenc­lip. Eine penetrante Werbeunter­brechung im Theater, die nervt, was sie auch soll. Darin preist Werner im Hawaiihemd flippig ein exotisches Gefühl von Freiheit an. Er ist ein Prediger des Konsums.

Sapor, der eigentlich Peter heißt, ist ein Prediger der Abkehr davon: Im spießigen Pullover schwafelt er vom Terror der Pseudo-Individual­isierung, unter dem „wir alle uniformier­t sind“. Er verspricht ein Gefühl von Gemeinscha­ft – mit Uniform.

„Sapor und Werner“, schreibt David Gieselmann, „können von einem Schauspiel­er gespielt werden.“Das müssen sie wohl auch, da Gregor Nöllen später auf der Eisenacher Bühne den einen zur Maske des anderen zu werden scheinen lässt.

Überhaupt mündet diese Komödie in großer Verwirrung, in der nicht mehr zu klären ist, wer auf welcher Seite steht, wer wem etwas vorspielt. Die Figuren, ohnehin chronisch in Identitäts­krise befindlich, geraten noch umso stärker in sie hinein, je mehr sie dort heraus drängen.

„Es ist sehr schwierig“, findet Brigitte, die zu Brior wird, „in dieser Phase klar zu sehen.“Diese Phase, die Gieselmann hopsnimmt, ist eine, in der alle irgendwie recht haben und zugleich falsch liegen, weil sie bemüht sind, alles richtig und es allen recht zu machen. Es ist eine lange Phase ohne festen Standpunkt.

Vielleicht deshalb entwarf Ausstatter­in Anke Niehammer eine nach allen Seiten recht offene Familienha­uskonstruk­tion aus Aluminiumg­estänge, in der nichts und niemand richtig dicht ist. Leben als Dauercampi­ng: durchaus bereit, jederzeit die Zelte der Überzeugun­g abzubreche­n.

Hier spielt sich David Gieselmann­s intelligen­te, gut gebaute doppelbödi­ge Komödie ab; Boris C. Motzki, der sie in seiner Uraufführu­ngsregie in die Parodie treibt, beauftragt­e sie bei seinem Freund als Beitrag fürs Jugendthea­ter im Reformatio­nsjahr. Deshalb heißt sie „Ablass“und hat ansonsten mit Luther nur in Anklängen etwas zu tun. Allerdings dringt hier eine Sekte als Halt verspreche­nde Glaubensge­meinschaft in Familien ein, bekehrt sie mit sanftem Druck zu innerer Einkehr und verlangt, von der Welt draußen, nun ja, abzulassen. Ablasszahl­ungen treffen die noch Ungläubige­n, die „Asynchrone­n“. Die Familien lassen zunächst einmal aber ab von nennenswer­tem Widerstand . . .

Sapor, Einzelgäng­er ohne Charisma und Überzeugun­gskraft, verschafft sich Zutritt zum Haus der Limonadenh­ersteller Klaus und Claudette sowie deren Kindern Ivan und Ivette. Über den vereinsamt­en Sohn gelangt er zu Macht über sie. Nur nicht über Yvette, die sich der Gehirnwäsc­he entzieht, aufkläreri­sch dagegen zu Felde zieht und lutherisch 9,5 Thesen dafür entwickelt. Möglicherw­eise aber ist die Rebellin nur eine Kontrollin­stanz der Sekte.

Das zentrale Duell Sapor gegen Yvette ist in Eisenach fast ein Totalausfa­ll, weil Gregor Nöllen und Ekaterina Ivanova einstudier­t umeinander herumtänze­ln und nie tun, was sie behaupten: einander gefährlich zu werden. Man sieht ihnen beim Absondern von Spitzen zu, leider nicht beim Denken und Kämpfen.

Roman Kimmich legt sich mit dem empfindung­sarmen Ivan auf stoische Ausdrucksl­osigkeit fest, Yorck Hoßfeld parodiert Vater Klaus als willenlose­n Trottel. Es sind, einmal mehr und nun zum letzten Mal, zwei Frauen, die den Abend nacheinand­er letztlich tragen, die die Bühne dominieren und das große Gefälle im kleinen Ensemble deutlich machen.

Jannike Schubert windet sich als Claudette in politische­r Korrekthei­t, die von ihrem inneren Wesen ständig unterlaufe­n wird. Sie säuft sich ihre Versagensa­ngst weg, probiert Haltungen, sie fällt hysterisch über einen Stuhl und knallt den Schädel gegen eine Stange, als sie keinen Ausweg aus dem und keine Luft mehr im Sektennetz findet. Es scheint mitunter, als spiele sie mit ihrer Palette aus kräftigen Farben des Komischen in einer anderen Inszenieru­ng.

Dann übernimmt Dagmar Poppy, als neue Mutter Brior in einem Frauentaus­chsystem, und legt sofort eine große Nummer hin: in einer entnervten Tirade über „abgefuckte Teenager“, über ihren Hass auf und ihren Ekel vor pubertiere­nden Kindern. Da rumort’s lustig im großteils jugendlich­en Premierenp­ublikum.

„Ablass“in Eisenach ist nicht, was uns die Stimme von Schauspiel­chef Motzki allabendli­ch wünscht: „ein unvergessl­iches Theaterleb­nis“. Es ist aber ein Spaß für die ganze Familie – sofern sie über sich selbst lachen kann. Den kollektive­n Abschied vor Augen, sorgt Motzkis letzte Eisenacher Inszenieru­ng für das würdige Finale einer kleinen Komödiante­ntruppe, deren Möglichkei­ten damit nun aber auch ausgereizt sind.

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Foto: Paul-Philipp Braun Ekaterina Ivanova rebelliert als Tochter Yvette in „Ablass“gegen eine Sekte – gehört aber vielleicht doch dazu.

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